Die Schule voller Geigen

7. Juni 2013

El Sistema hat Hunderttausende von Kindern aus lateinamerikanischen Slums zur klassischen Musik geführt. Jetzt kommt das Projekt unter dem Namen Superar in die Schweiz.

Kurz können Marco und Paolo die Stille geniessen. Dann wird das Musikzimmer gestürmt. 40 Kinder, sechs und sieben Jahre alt, drängen durch die Tür, quatschen, schreien, lachen. Es sieht nach Chaos aus, bis Marco am Klavier einen Rumbarhythmus anschlägt und Paolo ein lateinamerikanisches Kinderlied singt: «Un poquito cantas, un poquito bailas». Sofort sind die Kinder bei der Sache, stellen sich in Reihen auf und stimmen ein: «Un poquito lelola, lelola . . .».


Paolo Vignoli vor den Kindern der Primarschule Sennhof. Foto: B. Odehnal

Eine Stunde lang hallen ihre Stimmen durch die Gänge der Primarschule Sennhof in Winterthur. Paolo Vignoli steht vor ihnen, dirigiert, stampft, springt. Marco Castellini begleitet am Klavier. Die Kinder sind hoch konzentriert. Die Hyperaktiven werden ruhiger, die Ruhigen gewinnen Selbstvertrauen. «Du, wir sind da, mit allem, was wir haben, mit Haut und Haar», singen sie jetzt: «und mit etwas Glück gelingt uns auch ein Stück Musik». Nicht immer treffen sie den richtigen Ton, nicht immer bleiben sie im Takt. Aber im Lauf dieser Stunde verschmelzen ihre Stimmen zu einem Klangkörper. Im Lauf dieser Stunde schaffen sie etwas. Und sind sichtbar stolz darauf.

Mehr, als der Lehrplan vorsieht

So geht das seit Ende März, viermal pro Woche. Obwohl es diese Gesangsstunden eigentlich gar nicht geben dürfte. Weil der Lehrplan viel weniger Musikstunden vorsieht. Weil keine Lehrer, sondern professionelle Musiker unterrichten. Schulleiterin Suzanne Thörig wagt es trotzdem, vorerst als Projekt, aber bald soll die Musik «fixer Bestandteil unserer Schule sein».

Auf Thörigs Schreibtisch landen viele Projektvorschläge. Die meisten lehnt sie ab. Dieser eine aber mit dem seltsamen Namen «Superar» stach ihr ins Auge, weil es «genau das Richtige für unsere Schule ist». Es ist ein Integrationsprojekt, in dem nicht über Integration gesprochen wird. Ziel sei die Transformation der Gemeinschaft, erklärt die Website www.superar.eu: Kinder, vor allem aus sozial schwächeren Familien, sollen Freude und Selbstvertrauen und Verantwortungsbewusstsein über die Musik entwickeln. Das grosse Ziel ist ein künstlerisches: die Schaffung von «Spitzenensembles in den Kunstformen Gesang, Tanz und Orchester».

Ganz so weit ist der Chor im Schulhaus Sennhof noch nicht. Aber das Ergebnis nach zwei Monaten intensiver Arbeit kann sich hören lassen. Letzte Woche sangen die Kinder zum ersten Mal vor Eltern, Lehrern und Mitschülern. Und heute Freitag haben sie ihren ersten grossen Auftritt: Gemeinsam mit dem Superar-Chor der Aargauer Primarschule Rottenschwil und dem Orchester der Zürcher Primarschule Heumatt treten sie in der Zürcher Tonhalle auf. Dass ihr Entscheid für Superar richtig war, wusste Thörig schon nach der ersten Woche. Die Probleme der Kinder in Deutsch oder Mathematik würden durch die Musik nicht geringer: «Aber sie gehen anders an die Probleme heran. Sie wissen, dass sie es schaffen können.»

Konzerte gehören dazu

Die Idee stammt aus Venezuela. Dort hatte der Musiker und Ökonom José Antonio Abreu vor über dreissig Jahren ein Programm zur nationalen Musikerziehung begründet, das heute weltweit bekannt ist als El Sistema. Den Kindern wird ab Vorschulalter eine solide musikalische Grundausbildung angeboten, in jedem grösseren Ort gibt es ein Musikzentrum, Nucleo genannt, das oft der wichtigste soziale Treffpunkt ist. Die Kinder bekommen kostenlos Instrumente und Unterricht in Kleingruppen, öffentliche Konzerte gehören zum Konzept. Die daraus hervorgegangenen Spitzenorchester touren heute um die Welt, spielen unter prominenten Dirigenten wie Claudio Abbado oder Simon Rattle.

El Sistema faszinierte auch den Leiter der Wiener Sängerknaben, Gerald Wirth. Er studierte das Programm ausgiebig und brachte es nach Österreich unter dem Namen Superar, das spanische Wort für «etwas überwinden» oder «über sich hinauswachsen». Heute ist Superar ein Teil des Netzwerks Sistema Europe mit 25 Initiativen in 19 Ländern. Dabei ist auch die bosnische Gemeinde Srebrenica, in deren Umgebung 1995 fast 8000 Bosniaken von serbischen Soldaten erschossen wurden. Heute, 18 Jahre nach dem Massaker, ist das Superar-Orchester in der kleinen Musikschule am Hauptplatz einer von ganz wenigen Orten, wo sich junge Bosniaken und junge Serben treffen.

In Wien hat der Berner Geiger und Musikmanager Etienne Abelin das Projekt kennen gelernt und 2011 in die Schweiz gebracht. Derzeit nehmen drei Schulen daran teil, in naher Zukunft könnten einige weitere hinzukommen. Wichtig sei die Qualität des Unterrichts und nicht das schnelle Wachstum, sagt die Geschäftsführerin von Superar Suisse, Carolin Fedier. Ausserdem verlange das System der Schulleitung und den Lehrern viel Flexibilität ab. Finanziert wird der Unterricht zurzeit von privaten Stiftungen.

In der Schweiz gibt es keine Favelas, Armut und mangelnde Perspektive sind nicht so sichtbar wie in Venezuela. Die Schulleiterin in Winterthur aber bekommt schnell mit, was in den Familien läuft. Wenn die Kinder nichts aus den Ferien erzählen können, weil den Eltern das Geld für eine Reise fehlt. Oder wenn sie mit glasigen Augen in die Schule kommen, weil sie ein ganzes Wochenende vor dem TV-Gerät verbrachten.

Thörig leitet den Verbund Ausserwachten, der aus vier Primarschulhäusern besteht. Die drei Standorte auf dem «Berg» werden vor allem von Kindern aus der Mittelschicht besucht. Die Schule Sennhof liegt in einem Arbeiterquartier an der Töss. Jenseits des Flusses steht die letzte aktive Grossspinnerei der Schweiz. Der Anteil der Zuwanderer ist hoch, der Ruf des Quartiers nicht gerade gut. Niemals würden die Kinder vom Berg freiwillig in die Schule im Tal wechseln.

Nachmittage können im Quartier Sennhof ziemlich langweilig sein. Die Wohnungen sind klein, die Eltern arbeiten oder brauchen Ruhe, weil sie sich von der Nachtschicht erholen. Das gibt der Schule die Möglichkeit, Kinder in den Musikunterricht zu holen. Auf dem Berg wäre das unmöglich, sagt Thörig: Dort sind die Kindernachmittage mit Reiten, Tennis oder Golf verplant. Dort mischen sich die Eltern in den Unterricht ein: «Hier im Sennhof passiert das kaum.» Superar spricht deshalb direkt die Kinder an. Karten für das Konzert in Zürich lässt die Schulleiterin in den Klassen verteilen. Das reicht aber nicht immer als Motivation für die Eltern, den Auftritt ihrer Kinder zu besuchen. Einige sprechen kaum Deutsch und verstehen nicht, worum es geht. Andere wissen zwar, dass der Sohn oder die Tochter im Chor singt. Die Tonhalle ist ihnen aber unbekannt.

Für den ausgebildeten Sänger Paolo Vignoli ist die Schweiz «musikalisch ein Entwicklungsland»: Die Musikschulen hätten zu wenig Plätze, wer es sich leisten könne, schicke seine Kinder in privaten Unterricht. Daneben brauche es ein Netzwerk von Musikausbildungen, die sehr viel weniger kosten, sagt SuperarGründer Etienne Abelin. Unmusikalische Kinder gibt es für Vignoli «einfach nicht». Jeder könne singen, tanzen, einen Rhythmus klatschen. Vielleicht gehen sie dann im Leben in eine ganz andere Richtung, aber «die Erfahrung der Musik bleibt. Die kann ihnen niemand mehr nehmen.»

Assad, Berre, Kofi und Rinesa

Und es gibt auch echte Talente, die durch El Sistema entdeckt werden. Wie jener Bub aus einem Wiener Arbeiterquartier, der jetzt Solostimme bei den Wiener Sängerknaben singt. Seine türkische Mutter arbeitet als Putzfrau, der Sohn wurde unlängst sogar im Magazin der «Süddeutschen Zeitung» porträtiert. Vielleicht schlummern solche Talente auch im Tösstal oder in der Zürcher Agglo?

Es ist Samstagvormittag, grau, kalt und verregnet. Dennoch sind 25 Kinder in die Schule Heumatt in Zürich-Seebach gekommen, einen niedrigen Betonbau zwischen rostbraunen Hochhäusern. Die Kinder sind zwischen 11 und 12 Jahre alt, heissen Assad, Berre, Kofi oder Rinesa, ihre Eltern kommen aus Pakistan, Indien, Ghana, Kosovo oder der Schweiz.

Vor knapp zwei Monaten haben die Schüler zum ersten Mal eine Geige, eine Bratsche oder ein Cello in die Hände bekommen, haben zum ersten Mal schüchtern mit dem Bogen über die Saiten gestrichen. Jetzt sind sie schon ein richtiges Orchester, auch ein Kontrabass und ein Fagott sind dabei. Dreimal pro Woche proben sie in der Schule, zweimal am Nachmittag und samstags am Vormittag. Niemand zwingt sie dazu, und immer mehr Schüler wollen sich dem Orchester anschliessen. Weil ein Instrument zu spielen, «einfach cool ist», sagen Yara und Gabriela.


Samuel Matus und die Cello-Gruppe der Schule Heumatt. Foto: B. Odehnal

An diesem Samstag wird noch einmal das Programm für das Konzert in der Tonhalle durchgenommen. Es sind Stücke, die für die jungen Streicher leicht zu greifen, aber rhythmisch doch anspruchsvoll sind: ein Allegro und ein ungarischer Csardas. «Schaut dabei nicht so angestrengt», fordert der Cellist Samuel Matus die Kinder auf: «Ihr habt Spass am Spielen. Das soll euch das Publikum ansehen.» Dann geht es in Kleingruppen weiter: Im ersten Stock probt Matus mit den Celli, in einer Klasse im Erdgeschoss Lukas Kmit mit den Bratschen und im Werkraum im Keller Luis Mijangos mit den ersten und zweiten Geigen. Selbst der Abwart staunt, was die Kinder aus ihren Instrumenten zaubern.

Mijangos und sein Freund Matus kommen aus Guatemala und sprechen zu den Schülern in einem Gemisch aus Deutsch, Englisch und Spanisch. Aber das spielt beim Unterricht keine Rolle. Wenn Mijangos vor dem Orchester steht, «piano» zeigt und dabei in die Knie geht, verstehen alle, was er damit meint.

Matus ist 19, Mijangos 21 Jahre alt. Beide stammen aus ärmlichen Verhältnissen, Matus wollte Fussballer werden. Doch vor sechs Jahren las er in seinem Quartier in Guatemala-Stadt folgende Annonce an einer Hausmauer: «Wir bilden junge Musiker aus.» Er meldete sich und bekam ein Cello in die Hand gedrückt. Eine Woche später spielte er schon in einem Konzert mit. In El Sistema habe er eine zweite Familie gefunden, erinnert er sich an das Jugendorchester. «Wenn du im Sport nicht gut bist, sitzt du auf der Ersatzbank. In der Musik können alle mitmachen. Die Besseren tragen die Anfänger mit. Die Musik verändert dich in einer Art, wie es Fussball niemals könnte.»

An den Salzburger Festspielen

Armut wie in ihrer Heimat haben die jungen Guatemalteken in Zürich nicht gesehen. Fast alle ihrer Musikschüler haben ein Mobiltelefon, zerrissene Kleidung ist hier ein modisches Statement. Aber Mijangos spricht von einer spirituellen Armut der Schweiz: Alles drehe sich um die Arbeit, «niemand kann sich an den kleinen Dingen des Lebens freuen». Auch diese Freude möchte er in der Schule Heumatt vermitteln.

Nach dem Auftritt in der Tonhalle werden einige Sänger und Musiker von Superar Suisse im August zu den Salzburger Festspielen reisen und dort gemeinsam mit einem jungen Orchester aus Venezuela musizieren. In der Woche zuvor steht ein Camp von Sistema Europe in Wien auf dem Programm. Dort werden die Schweizer auf Kinder aus Österreich, Portugal, Italien und anderen Ländern treffen. Verstehen werden sie einander vielleicht nicht gleich. Aber sie kennen dieselben Lieder und werden gemeinsam «ein wenig singen, ein wenig tanzen»: «Un poquito cantas, un poquito bailas. Un poquito lelola . . .»