Die Ziege darf noch in die Manege

10. Januar 2013

Niederländische Zirkusse haben ein Problem: Der Auftritt wilder Tiere ist ab sofort verboten.

Eine Bahnlinie, eine vierspurige Strasse, ein riesiger Parkplatz vor einem Ikea-Markt. Der Nationalzirkus der Niederlande hat sich für sein Winterquartier nicht gerade die schönste Gegend zwischen Amsterdam und Haarlem ausgesucht. Dennoch konnte sich der Zirkus der Familie Renz in den letzten Tagen des alten Jahres nicht über mangelndes Besucherinteresse beklagen. Die beiden Vorstellungen pro Tag waren stets gut besucht bis ausverkauft. Kein Wunder. Zum letzten Mal durften Hollands Kinder und ihre erwachsenen Begleiter die nervenaufreibende Begegnung mit den Königen der Raubkatzen erleben, durften in die kalten Augen asiatischer Tiger und die heissen Rachen afrikanischer Löwen blicken. Geschützt nur durch ein filigranes Gitter am Manegenrand. Damit ist es jetzt vorbei.

Die Niederlande haben nach langer politischer Krise seit November wieder eine stabile Regierung. Die ist zwar europafreundlicher als ihre Vorgängerin, aber für den Zirkus hat sie nicht viel übrig. Die sozialdemokratisch-liberale Koalition beschloss noch vor dem grossen Sparpaket zur Sanierung des Staatshaushalts ein Verbot von wilden Tieren in Zirkusvorstellungen. Ab Januar 2013. Sie folgt damit dem Beispiel Österreichs, Griechenlands und der skandinavischen Länder, die den Einsatz von wilden Tieren oder sogar von Tieren generell (Griechenland) im Zirkus verboten haben.

Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb die Löwen und Tiger an diesem regnerischen Sonntagnachmittag in Haarlem so traurig ins Publikum blicken. Einmal noch dürfen sie zur Peitsche von Dompteur Tom Dieck jun. auf den Hinterbeinen tanzen, Männchen machen, über Stangen springen und auch einmal so richtig laut brüllen. Das Publikum hat bezahlt, es möchte dafür den wohlig warmen Schauer der Angst spüren. Wobei: Die meiste Furcht flösst bei dieser Vorstellung der Dompteur ein, mit seinen schmalen Augen, dem dünnen Knebelbart und den pomadenglänzenden schwarzen Haaren. Auf Sizilien machen sie solche Typen zu Auftragskillern. Wen will da noch ein abgemagerter Tiger mit heiserem Brüllen beeindrucken?

Die Lobby der Tierschützer jubelt: Der niederländische Entscheid sei ein Meilenstein und Wegweiser für ganz Europa. Andere Länder müssten nun nachziehen. In Deutschland wird darüber schon heftig gestritten, ohne dass sich das Parlament allerdings zum Verbot durchringen könnte. In Frankreich und der Schweiz sind wilde Tiere (noch) erlaubt. Seinen Tieren gehe es gut, sagt Dompteur Dieck jun. der Zeitung «de Volkskrant», keines könne sich ein anderes Leben als das in der Manege vorstellen. Oder so ähnlich. Zu seiner Menagerie gehören auch zwei Liger, eine traurige Kreuzung aus Tiger und Löwe, riesengross, unfruchtbar und hoffnungslos.

Natürlich: Es geht auch ohne die Raubkatzen. Für den Nervenkitzel gibt es noch den Hochseiltänzer. Und Haustiere können ebenfalls interessante Kunststücke zeigen. Aber wenn im Amsterdamer Familienzirkus Zanzara der putzige schwarz-weisse Pudel Hertog auf dem Rücken des zottigen Friesenponys Matsjo durch die Manege schaukelt, ist das irgendwie kein vollwertiger Ersatz für einen durch den Feuerreifen springenden Tiger. Zirkus braucht wilde Tiere, sonst könnten wir ja gleich Andre Hellers Pferdeoper «Magnifico!» besuchen.

Wenn die Niederländer dieses Jahr den Löwen in die Augen sehen und die Tiger in der Manege brüllen hören wollen, müssen sie in die Nachbarländer ausweichen. In Frankreich könnten sie dann auch wieder Tom Dieck jun. und seinen Ligern begegnen. Der Sohn einer Zirkusfamilie ist als «Raubtier-Freelancer» mit seinen Tieren weitergezogen. Dorthin, wo sein Gewerbe noch nicht verboten ist. Seine Raubkatzen stammten von Zuchttieren ab, die seit 15 Generationen in Gefangenschaft lebten, sagte er zuvor noch einem niederländischen Reporter: «In der Wildnis wären die sofort tot.»