Ein Land am Limit

28. Oktober 2015

In Österreich ist die Stimmung umgeschlagen. Konservative Politiker und Boulevardmedien hetzen gegen Flüchtlinge. Erste Regierungsmitglieder plädieren für Abschottung. 

Mitten in der Nacht wurde Mohammed Reza Musafari von slowenischen Polizisten unsanft geweckt. «Steht auf, ihr könnt nach Österreich», sagten die Uniformierten. So verliess der 43-jährige Afghane gemeinsam mit etwa 500 anderen Flüchtlingen das geheizte Grosszelt im slowenischen Grenzort Sentilj und marschierte in die Dunkelheit. Weit kamen sie nicht. Nach 300 Metern hielten sie österreichische Soldaten auf. Die Auskunft der Slowenen war falsch gewesen, Österreich liess in der Nacht auf Dienstag keine Flüchtlinge über die Grenze. Zurück ins slowenische Zeltlager durften die Flüchtlinge nicht mehr.

Dienstag Mittag sitzt Musafari noch immer im Niemandsland fest. Es ist kalt und feucht, die Flüchtlinge haben Lagerfeuer angezündet, der Rauch vermischt sich mit dem Nebel, der zäh über dem Tal der Mur hängt. Rezas Frau hat starke Bauchschmerzen, doch im Niemandsland gibt es keinen Arzt. Es gibt auch kein Essen und kein Wasser. «Wie lange müssen wir noch warten?», fragt der ­Afghane. Und: «Wie weit ist es nach Österreich? Wie weit nach Deutschland?» Niemand gibt Antwort. Die Flüchtlinge sind erschöpft, frustriert. Andere drängen zornig gegen den menschlichen Wall aus Soldaten. Doch der hält. 

Dienstag Mittag sitzt Musafari noch immer im Niemandsland fest. Es ist kalt und feucht, die Flüchtlinge haben Lagerfeuer angezündet, der Rauch vermischt sich mit dem Nebel, der zäh über dem Tal der Mur hängt. Rezas Frau hat starke Bauchschmerzen, doch im Niemandsland gibt es keinen Arzt. Es gibt auch kein Essen und kein Wasser. «Wie lange müssen wir noch warten?», fragt der ­Afghane. Und: «Wie weit ist es nach Österreich? Wie weit nach Deutschland?» Niemand gibt Antwort. Die Flüchtlinge sind erschöpft, frustriert. Andere drängen zornig gegen den menschlichen Wall aus Soldaten. Doch der hält. 


Slowenische Polizisten bringen die Flüchtlinge vom Bahnhof Sentilj zum Lager.
Foto: B. Odehnal

Im steirischen Spielfeld bleibt die Grenze zu Slowenien bis Mittag geschlossen. Die Flüchtlingszelte auf der österreichischen Seite sind voll, der Abtransport mit Cars in Notquartiere im ganzen Land verläuft schleppend. Während auf slowenischer Seite Sonderzüge mit zwei- bis dreitausend Flüchtlingen ankommen, schaffen auf österreichischer Seite höchstens fünf- bis sechshundert die Weiterfahrt. Wird der Transport absichtlich verschleppt? Niemand will Antwort geben. Die Stimmung unter Flüchtlingen, Soldaten und Polizisten ist gereizt. Von der Willkommenskultur, die in den vergangenen Wochen am burgenländischen Grenzübergang Nickelsdorf herrschte, ist in der Steiermark wenig zu spüren. Journalisten wird der Zutritt zum Flüchtlingsareal verweigert: «Sie dürfen hier nicht sein, so lautet mein Befehl», bellt ein junger Soldat. Auch freiwillige Helfer werden vertrieben. 

Die Ministerin und der Zaun 

Die ungemütliche Situation widerspiegelt den Stimmungsumschwung in der Politik. Die konservative ÖVP, der kleinere Partner in der Grossen Koalition, greift nun Forderungen und Parolen der Rechtspopulisten auf. Die schwarzen Landeshauptleute der Steiermark und Oberösterreichs fordern schärfere Grenzkontrollen und mehr Soldaten. Aussenminister Sebastian Kurz ist dem Bau von Grenzzäunen nicht abgeneigt. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner verkündet gestern in Spielfeld den Planungsbeginn für «bauliche Sicherheitsmassnahmen» entlang der slowenischen Grenze. Ist damit ein Zaun gemeint? Die Ministerin weicht aus, spricht lieber vom «Zustrom» aus Slowenien, der viel stärker sei als der «Abfluss» nach Deutschland. Deshalb sei «Österreich am Limit». Kurz zuvor warnte Mikl-Leitner, dass bei den Flüchtlingen mit Gewalt zu rechnen sei. 

Die Ministerin greift damit eine These auf, die bisher eher in sozialen Medien zu finden war. Gerüchte von Flüchtlingen, die Geschäfte plünderten oder ganze Landstriche mit ihrem Müll verwüsteten, tauchten zuerst auf Facebook auf und wurden von FPÖ-Politikern verlinkt und verbreitet, mit Bemerkungen wie «Interessant!». Keine Schauergeschichte hielt einer Überprüfung stand, Polizei und Supermarktketten dementierten, dass je ein Geschäft geplündert oder gestürmt worden sei. 

Die Gerüchte aber halten sich hartnäckig. Am Sonntag beschwor Christoph Biró, Chefredaktor der Steiermark-Ausgabe der «Kronen Zeitung», ein apokalyptisches Bild: Von «aggressiven sexuellen Übergriffen» durch Flüchtlinge und von Supermärkte stürmenden «Horden». Nichts davon wurde bewiesen. Biró distanzierte sich gestern von seinem Kommentar und gab bekannt, dass er sich «für einige Zeit» aus der Redaktion zurückziehe. 

Als vergangene Woche Tausende Flüchtlinge die Sperren durchbrachen und sich zu Fuss auf den Weg machten, schlug Spielfelds Bürgermeister Reinhold Höflechner Alarm: Die Bevölkerung sei beunruhigt, «wir leben im Ausnahmezustand». Polizei und Armee riegelten daraufhin die Ortszufahrten ab. Die Aufregung war kurz. Heute sei ­alles wieder ruhig, die Leute machten sich keine Sorgen mehr, «weil sie sehen, dass die Einsatzkräfte die Lage im Griff haben», sagt Höflechner. 


Flüchtlinge im Niemandsland zwischen Sentilj und Spielfeld. Vom Hügel im Hintergrund aus beobachtet Österreichs Innenministerin die Menge. Foto: B. Odehnal

Auch von Helfern werden unhaltbare Gerüchte verbreitet. Eine Gruppe namens «SOS Konvoi» schlug Alarm wegen des brutalen Vorgehens der slowenischen Polizei und der Selbstverbrennung eines Flüchtlings. Auch dieses Posting blieb, obwohl vielfach widerlegt, online. Die Stimmung im Land sei sehr polarisiert, sagt eine Helferin, die ihren Namen nicht in der Zeitung sehen will: «Der Hass wird stärker, aber das Bedürfnis zu helfen ebenfalls.» Am Montag demonstrierten 100   Menschen gegen die Flüchtlinge in Spielfeld. Die Verunsicherung entstehe durch mangelnde Information, sagt die Helferin: «Wir lebten in einer kleinen, heilen Welt. Jetzt kommen die Flüchtlinge, aber Politik und Behörden halten uns im Dunkeln.» 

Dieses Schicksal teilen die Bewohner der Südsteiermark mit den Flüchtlingen im Niemandsland. Sie wissen nicht einmal, ob sie noch in Slowenien oder schon in Österreich sind. Am Nachmittag wird die Stimmung aggressiver und entlädt sich in einer kurzen Prügelei genau in dem Moment, als die Polizei der österreichischen Innenministerin von einem Hügel aus das Gelände zeigt. Mikl-Leitner blickt aus sicherer Entfernung auf das Chaos und sieht vermutlich ihre Warnung vor gewalttätigen Flüchtlingen bestätigt. Die wollen aber nur wissen, wie es weitergeht. «Let us go» rufen sie der Frau auf dem Hügel zu, von der sie annehmen, dass sie wichtig ist. «Is this Angela Merkel?», fragt ein Syrer. Dann schreien ihn die nervösen Soldaten in gebrochenem Englisch nieder: «Sit down, wait. You have so much time.»