Endstation im Wassertal

10. Januar 2013

Der Schweizer Michael Schneeberger hat sich in Rumänien um die Rettung der letzten Waldbahn bemüht. Er wurde zum Opfer seines eigenen Erfolgs.


Die Wassertalbahn in Viseu de Sus (Rumänien). Foto: B. Odehnal

Zum Schluss musste er noch die Pressemitteilung verfassen: «Der schweizerische Verein ‹Hilfe für die Wassertalbahn› beschloss am 11. November 2012, seine Tätigkeit auf der rumänischen Waldbahn Viseu de Sus offiziell zu beenden.» Ein nüchternes Communiqué, das die mit dem Abschied verbundenen Emotionen nicht einmal erahnen lässt. Vereinspräsident Michael Schneeberger hat die Zeilen in seinem neuen Haus in der ungarischen Puszta verfasst. Vom Schreibtisch aus sieht er jetzt weites, flaches Land. Manchmal vermisst er den Blick auf die Hügel der Karpaten und das schäumende Wasser eines rumänischen Gebirgsbachs. Aber in Rumänien, sagt der 55-jährige Berner, «hat es keinen Spass mehr gemacht».

Über zehn Jahre lebte Schneeberger in der rumänischen Kleinstadt Viseu de Sus, weit im Norden des Landes, nahe der ukrainischen Grenze. Zusammen mit Gleichgesinnten hat er eine alte Schmalspurbahn gerettet und eines der heute bekanntesten Tourismusprojekte des Landes aufgebaut. Der Abschied von Rumänien fiel dann allerdings ganz anders aus als erhofft: nicht in Harmonie, sondern im Gefühl, ausgebootet worden zu sein. Im heutigen Rumänien «regieren Neid und Gier», sagt Schneeberger.

Viseu de Sus liegt in der Region Maramures, am Eingang des Vasertals. Früher lebten hier deutsche Holzarbeiter, rumänische Bauern, ungarische Handwerker und chassidische Juden. An die Deutschen erinnern noch Strassen, alte Häuser und die Namen «Oberwischau» und «Wassertal». An die Juden erinnern der Friedhof und das kleine Museum Elefant, das Schneeberger am Ufer der Vaser errichtet hat. Der Name würdigt Alexander Elefant, einen jüdischen Fabrikanten, dem das grosse Sägewerk von Oberwischau gehörte. Alle Juden von Viseu wurden 1944 direkt ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert.

Jahrhundertelang kam das Holz für dieses Sägewerk über den gefährlichen Wasserweg ins Tal. 1928 baute man eine Schmalspurbahn, die den Transport von Menschen, Bäumen und Material erleichterte. Bis heute ist sie der einzige Verkehrsweg im Tal.

Michael Schneeberger verirrte sich 1988 zum ersten Mal in diesen Winkel Rumäniens: ein junger Abenteurer und Eisenbahnfan aus einer Berner Grossfamilie, der lieber den wilden Osten erkundete, als mit Freunden am Strand zu liegen. Im Wassertal erlebte er ein Landleben, wie er es höchstens von uralten Bildern aus dem Berner Oberland kannte: ohne Strom und Autos, mit Pferdewagen und knorrigen Holzknechten. Die Gastfreundschaft überwältigte ihn. Warum manche seiner damaligen rumänischen Bekannten auf einmal verschwanden und mit blauen Flecken im Gesicht wieder auftauchten, begriff er erst nach der Wende: Sie waren wegen des Kontakts zu einem Ausländer vom Geheimdienst Securitate verhaftet, verhört und verprügelt worden.

Parteien als Mittel zum Zweck

Nach der Wende erlebte Schneeberger erst Euphorie über die neue Freiheit, dann die grosse Depression des wirtschaftlichen Niedergangs. Die desolaten rumänischen Fabriken konnten nicht mit der Konkurrenz aus dem Westen mithalten. In der Maramures schlossen die Möbelfabriken, in Viseu entliess das Sägewerk die Arbeiter.

Auch die vielen Waldbahnen Rumäniens konnten in der freien Marktwirtschaft nicht bestehen. Die Wassertalbahn überlebte als letzte im Land und eine der letzten in Europa. Als auch ihr die Einstellung drohte, rief Schneeberger in Bern den Verein «Hilfe für die Wassertalbahn» ins Leben. Seine Idee: Dampfzüge sollten Touristen in die pittoreske Landschaft führen, die Einnahmen aus dem Betrieb würden den Fortbestand der Bahn sichern.


Michael Schneeberger. Foto: B. Odehnal

Der Verein bemühte sich um Spenden, mit denen die Reparatur von Gleisen und Dampfloks finanziert wurde. Die Wengernalpbahn schenkte alte Waggons, die umgebaut wurden und seither sogar ein wenig Komfort bieten. An die 200 000 Franken seien investiert worden, schätzt Schneeberger. Die vielen Stunden Gratisarbeit kommen hinzu.

2001 machte Schneeberger aus dem Hobby einen Beruf. Er gab seinen Job als Fotograf in der Schweiz auf und zügelte nach Viseu. Erst wohnte er bei Freunden, später in einem uralten Bauernhaus, das er weit oben in den Wäldern abgebaut und in der Nähe des Bahnhofs mithilfe deutscher Handwerksgesellen wieder aufgebaut hatte. Balken für Balken. Auf das Haus ist er heute noch stolz. Betreten darf er es nicht mehr, seit das Grundstück einen neuen Besitzer hat.

Die Maramures ist selbst für rumänische Verhältnisse ziemlich zurückgeblieben. Das westliche Ausland und die rumänischen Städte sind weit weg, Strassen und Bahnstrecken in so erbärmlichem Zustand, dass sie oft nur im Schritttempo befahren werden können. Kein Reisebüro hätte vor zehn Jahren diese Destination in sein Programm aufgenommen. «Eine professionell vermarktete Touristenattraktion ist die Waldbahn noch nicht», schrieb der «Tages-Anzeiger» 2004 über die Wassertalbahn: «Der Abfahrtsbahnhof liegt versteckt hinter dem Sägewerk. Eine alte Bäuerin in durchlöcherten Gummigaloschen lässt ihre zwei Ziegen zwischen den Gleisen grasen, ab und zu fährt ein Zug.»

Als Erste kamen die Pufferküsser: Eisenbahnfotografen aus der Schweiz, Österreich oder Deutschland, die zu allen Entbehrungen bereit sind, nur damit sie die letzte Dampflok ihrer Art vor das Objektiv bekommen. Da diese «Ferrosexuellen» zwar schrullig, aber gut vernetzt sind, tauchten Artikel und Bilder der Wassertalbahn bald in ganz Europa und in Übersee auf. Sie erreichten auch weniger Bahn-affine Kreise. Das Schweizer Fernsehen sowie Arte brachten Reportagen, der Sänger Endo Anaconda und der Berner Alt-Nationalrat François Loeb reisten an, immer mehr Schweizer Reisegruppen besuchten das Wassertal. Langsam kam der Betrieb in Schwung.

Schneeberger lobt heute noch den Einsatz der Lokführer, Heizer und anderen Helfer. Alle hatten ein gemeinsames Ziel: die Bahn als Markenzeichen ihrer Region zu verkaufen. Doch in seiner Begeisterung für die kleinen Leute übersah Schneeberger die lokale Oberschicht.

Grosse Politik, wie sie in Bukarest gemacht wird, spielt in der Provinz keine Rolle. Das Schicksal einer Gemeinde bestimmen der Bürgermeister, der Forstverwalter, die Fabrikbesitzer und ihre Freunde. Politische Parteien sind für sie Mittel zum Zweck. Man kann sie wechseln wie einen alten Mantel. So war es in der Monarchie, so war es im Kommunismus, so ist es in der Demokratie. Schneeberger räumt ein, dass er den Kontakt zu den Machthabern nicht gepflegt hatte. Er wollte demonstrativ nicht dazugehören. Das sollte sich rächen.

Zu laut, zu wenig respektvoll

Der Touristenbetrieb auf der Bahn lief besser und besser. Statt 50 fuhren an Sommertagen bis zu 500 Gäste mit Dampfzügen ins Tal. Nicht nur westliche Ausländer, vor allem Rumänen aus den Grossstädten füllten die Züge: Die erfolgreiche Mittelschicht entdeckte das eigene Land. Die neuen Gäste brachten der Bahn zwar Einnahmen, aber anfreunden konnte sich Schneeberger mit ihnen nicht. Zu laut waren sie, zu fordernd, zu wenig respektvoll.

Seinen Frust schrieb er sich in einer launigen Kurzgeschichte von der Seele. Darin reist die neue Elite in ihren Audi und Allradautos aus Bukarest an, um sich im Wassertal der Romantik und dem Schnaps hinzugeben: «Eine bunte Mischung von richtigen und eingebildeten Chefs und Unternehmern, arroganten Bukarestern, Politikern und höheren Beamten, ausländischen Investoren, Wendegewinnern und -profiteuren, Mafiosi und Securisten samt ihrem unterwürfigen Anhang, kurz: alles, was in Rumänien den Ton angibt.» Im Zug werden Geschäfte gemacht und die Profite im Voraus verteilt: «Geschäftssinn und Schlitzohrigkeit kamen tüchtig in Fahrt, die neue Zeit war angebrochen, hoppla, wir sind wer!» Doch auf der Strecke bricht die Kupplung; die Waggons mit der alkoholisierten, lärmenden Gesellschaft rasen talwärts. Der Erzähler springt ab, der Zug verschwindet im Nebel, für immer. Die Parallelen zu Dürrenmatts Untergangsparabel «Der Tunnel» sind nicht zu übersehen.

Jahrelang hatte sich der Schweizer Verein um die Strecke gekümmert. Doch dann wollten andere profitieren. Plötzlich mussten Genehmigungen eingeholt werden, mussten neue Gebühren gezahlt werden. Nicht immer gab es Quittungen, nicht immer Gegenleistungen.

Über die unorthodoxen Geschäftsabwicklungen will Schneeberger nicht mehr erzählen. Es gab Dinge, sagt er dann, «die waren richtig zum Kotzen». Im vergangenen Jahr wurde er in die Entscheidungen über den Bahnbetrieb nicht mehr einbezogen. Er sollte lediglich Kalender mit netten Lokfotos produzieren und Spender bei Laune halten. «Meinungsverschiedenheiten erschweren die Zusammenarbeit mit unseren Partnern», schrieb er im letzten Frühjahr an die Vereinsmitglieder: «Leider hat der Erfolg auch Schattenseiten.»

Der Bahn geht es heute gut. Der Staat hat sie unter Denkmalschutz gestellt. Mit den Touristenfahrten werden hohe Umsätze gemacht. Doch Michael Schneeberger ist nicht mehr dabei. Er organisiert jetzt von Ungarn aus Bahn- und Kulturreisen in Osteuropa. Sein Schweizer Verein hat das Projekt Wassertalbahn abgeschlossen und will unter neuem Namen die letzten Kleinbahnen in der Ukraine und in Bosnien retten. Die Erfahrungen aus dem Wassertal könne er dabei gut brauchen, sagt Schneeberger, «aber so stark wie in Rumänien werde ich mich nicht mehr engagieren».