Fahrtenschreiber der Anarchie

18. Februar 2013

Ob Verkehrsunfälle oder Meteoritenabstürze: Russische Autokameras zeichnen alles auf.

Mit feurigem Schweif zieht die glühende Kugel über den tiefblauen Himmel, bis sie mit einem lauten Knall explodiert. Fenster bersten, Mauern stürzen ein, 1200 Menschen werden verletzt. Astrophysiker sind trotzdem begeistert. Noch nie wurden Flug und Aufschlag eines Meteoriten aus so vielen Perspektiven gefilmt wie jene in Tscheljabinsk.<--break->

Die lückenlose Dokumentation eines seltenen Naturereignisses verdankt die Wissenschaft weder Meteoritenspottern noch Sternwarten. Sondern Tausenden russischen Autofahrern, die zu jener Zeit zufällig in den Strassen der Millionenstadt im Ural unterwegs waren.

Viele russische Autos sind mit einem Zubehör ausgerüstet, das im Westen nahezu unbekannt ist. «Dash Cams» sind kleine Videokameras, die auf dem Armaturenbrett oder hinter dem Rückspiegel montiert werden und das Geschehen auf der Strasse durch die Windschutzscheibe aufnehmen. Zwischen Sankt Petersburg und Wladiwostok wurden diese «Videoregistratori» hunderttausendfach verkauft.

Grund dafür ist nicht die Sehnsucht russischer Automobilisten, die Flüge kosmischer Festkörper zu dokumentieren, sondern ihre Angst vor der Anarchie auf den Strassen. Mafiabanden konstruieren Unfälle und fordern von vermeintlich Schuldigen Schadenersatz. Verkehrspolizisten stehen an stark befahrenen Kreuzungen, winken wahllos Autos aus den Kolonnen und bitten die Fahrer zur Kasse. Quittungen für Bussen gibt es nicht.

Seit die Lenker ihre Fahrten dokumentierten, gingen Korruption und Kriminalität auf den Strassen zurück, behauptet der Verband der Autobesitzer. Enorm gestiegen ist hingegen die Zahl der Aufnahmen spektakulärer Unfälle im Internet. Auf Youtube gibt es millionenfach aufgerufene Medleys absurder und schrecklicher Zusammenstösse. Da fliegen Autos durch die Luft, fallen aufeinander, explodieren mitten auf der Autobahn. Es gibt die jugendfreie Abteilung, in der viel Blech verbeult wird, und Hardcore-Varianten mit Blut und abgetrennten Körperteilen.

Besonders wichtig ist der Ton der Videosequenzen. Wer einen Aufprall überlebt, kommentiert ihn sofort mit den wüstesten Flüchen der an wüsten Flüchen reich gesegneten russischen Sprache. Sie hier auch nur ansatzweise wiederzugeben, würde alle Grenzen des Sittlichen sprengen. Nur so viel: Sie haben viel mit Geschlechtsorganen sowie der Aufforderung zur Unzucht mit der eigenen Mutter zu tun. Bleibt nach einem Unfall die Schuldfrage offen, wird sie gern mittels Faustkampfs geklärt.

Dass die kleinen Kameras auch den eigenen Fahrstil entlarven, stört ihre Besitzer offenbar wenig. Schuld ist ja prinzipiell immer der andere. Oder das Wetter. Oder der Strassenzustand. Dabei dokumentieren die Filme im Internet eindrucksvoll, dass sich russische Autofahrer stets so verhalten, als ob sie bei strahlendem Sonnenschein auf einer leeren, schnurgeraden, sechsspurigen Autobahn unterwegs wären. Auch im Winter, bei Nebel und dichtem Verkehr. Wenn dann ein unbeleuchteter Lastwagen im Weg steht, ist es für die Notbremsung zu spät. Da bleibt nur noch Zeit für einen letzten Fluch.

Abschreckende Wirkung haben die Unfallbilder im Internet aber nicht. Sie scheinen das riskante Fahrverhalten der Russen eher noch zu fördern. Die Zahl der Verkehrstoten steigt ständig, 2012 starben 28 000 Menschen bei Verkehrsunfällen. Zum Vergleich: In Russland gibt es 37 Millionen Autos. In Deutschland, mit 43 Millionen Autos, kamen 2012 etwa 3700 Menschen im Strassenverkehr ums Leben.

Der russische Verband der Autobesitzer empfiehlt seinen Mitgliedern dennoch, ihre Wagen mit den kleinen Kameras auszustatten, weil die Aufnahmen vor Gericht als Beweis akzeptiert werden. Wenn damit schon nicht die Sicherheit auf den Strassen verbessert werde, so könne sich damit wenigstens das Gesetz gegen das Recht des Stärkeren durchsetzen. Und vielleicht ist ja auch der nächste Meteorit schon auf dem Weg in den Ural.