Fegefeuer der Eitelkeiten

22. Mai 2015

Begeisterung ist Bürgerpflicht, Ironie verpönt, und Conchita Wurst tönt aus der Kanalisation. Wien im Zeichen des Eurovision Song Contest: Momentaufnahmen einer Stadt im Ausnahmezustand. 

Residenz der Schweizerischen Botschaft. 

«Na, das ist doch nett», seufzt der grauhaarige Diplomat, als der Applaus für die junge Künstlerin verebbt. Ob das ernst oder ironisch gemeint war, ist bei einem Publikum schwer herauszufinden, das sich berufsbedingt stets hinter distanzierter Höflichkeit versteckt. Es ist ein lauer Abend, der Schweizer Botschafter hat zum Empfang geladen. Ehrengäste im frisch renovierten Seitentrakt des barocken Palais Schwarzenberg sind Mélanie René und ihr Team für den Song Contest. Begleitet von einem sensiblen Pianisten, singt die 24-jährige Genferin zwei sehr langsame Jazzstandards und danach von ihrem Weg aus der Dunkelheit, «Time to Shine». 

Bevor die Gäste das Buffet stürmen, bekommt René Blumen, bedankt sich bei den Gastgebern, verspricht, ihr Bestes zu geben, und sagt, dass der Aufenthalt in Wien sie sehr glücklich mache. Sie hat diesen Satz schon oft gesagt. 40   Länder nehmen am Eurovision Song Contest (ESC) teil, 40 Botschaften haben in den vergangenen Tagen ihre eigenen und befreundete Delegationen eingeladen. Alle wollen «Brücken bauen», ganz nach dem diesjährigen Motto des Wettbewerbs. Das ist Schwerarbeit für die Künstler: für die Fotografen posieren, lächeln und betonen, dass man noch nie einen so tollen Wettbewerb in einer so gastfreundlichen Stadt erlebt habe. 

Vordereingang der Wiener Stadthalle, 

Publikumsbereich. 

Wien im Ausnahmezustand: Von der Müllabfuhr bis zur Hochkultur haben sich alle Institutionen der Stadt den Bedürfnissen des Song Contest unterzuordnen. Alle stehen im Dienst der höheren Sache. Im überregulierten und überverwalteten Wien sind auf einmal Dinge möglich, die im Alltag am «Das geht gar nicht» und «Das haben wir noch nie so gemacht» einer sturen Beamtenschaft gnadenlos scheitern würden. Auf einmal stehen in den heiligen Wiesen des Wiener Stadtgartenamts 150 lebensgrosse Metallfiguren und 10 000 Pappherzen mit Selbstlob in Rot-Weiss-Rot: «12 points go to Vienna’s parks.» Auf einmal tönt die Stimme von Conchita Wurst aus Kanaldeckeln und U-Bahn-Lautsprechern («Conchita sagt: Es gibt viele Stationen im Leben. An dieser erwartet Sie die Fan­meile»). Und daran, dass 150 Fussgängerampeln nun schwule und lesbische Pärchen mit Herz zeigen, stört sich nur mehr die rechtspopulistische FPÖ. Deren Ankündigung, die Stadtregierung zu verzeigen, nehmen aber nicht einmal die eigenen Anhänger ernst. 

Vom Bürgermeister bis zum kleinsten Magistratsbeamten: Solche Grossveranstaltungen lösen wahre Kreativitätsschübe aus. Da sind Kosten dann kein Thema mehr. Der öffentlich-rechtliche ORF muss als Veranstalter 25 Millionen Euro zahlen. Die schwer verschuldete Stadt Wien steuert 11 Millionen bei. Gespart wird auch beim Eigenlob nicht: Die von der Gemeinde Wien ausgiebig mit Inseraten versorgten Boulevardmedien schwelgen in Superlativen: «Traum-Start!», «Weltklasse-Show!». Die Wertschöpfung des Song Contest wird auf 38   Millionen Euro geschätzt. 

Hintereingang der Wiener Stadthalle, 

Pressezentrum. 

«Na servas, da is viel los.» Christian Oxonitsch, Wiener Stadtrat für Information und Bildung, ist vom Pressezentrum beeindruckt. 1800 Akkreditierungen wurden ausgestellt, drei Säle der Stadthalle für die Presse adaptiert. Von der Veranstaltung selbst bleiben Journalisten und Blogger freilich abgeschirmt. Den grossen Saal mit der Bühne dürfen sie nicht betreten. Was dort passiert, sehen sie nur auf Bildschirmen. Die meisten scheint das nicht zu stören. Sie geniessen den kostenlosen Kaffee und die Betreuung durch freundliche junge Freiwillige, die hier gratis arbeiten. Die Künstler sehen sie nur, wenn die zu Pressekonferenzen kommen. «Wie gefällt es dir in Wien?» «Ich bin so glücklich, hier zu sein. Ich werde mein Bestes geben.» Applaus im Saal, Journalismus geht hier nahtlos in Fankultur über. 

Argentinierstrasse, Funkhaus des ORF. 

«Wir müssen unseren Nachbarn nur fest in die Augen sehen. Und die Welt wird besser.» So erklärt Kathrin Zechner die Idee der Bühneninstallation in der Wiener Stadthalle, deren Stelen ein riesiges Auge ergeben. Auch das Auge soll eine Brücke bilden: zwischen Künstlern, Delegationen und dem Publikum auf der ganzen Welt. Zechner ist als ORF-Direktorin für die Unterhaltung für den Song Contest verantwortlich. Jetzt steht sie im Aufnahmestudio des Funkhauses, wo Wiener Sängerknaben und ein Kinderchor gerade die Hymne des Liedwettbewerbs aufnehmen: «Wir bauen Brücken, die den Test der Zeit bestehen». Beim Finale werden sie das Lied gemeinsam mit Vorjahressiegerin Conchita Wurst singen, zur Sicherheit wird dann die Aufnahme als Half-Playback dazugemischt. 

Dass sich Zechner mit den Kindern ausgerechnet im Funkhaus filmen lässt, hat eine gewisse Brisanz. Es gibt keinen Ort in Wien, an dem der Unmut über den Song Contest grösser wäre als in den Redaktionen des Kulturradios Ö 1 oder des Jugendradios FM 4. Der ORF muss sparen und tut das beim Kultur- und Informationsprogramm. Grossveranstaltungen werden nicht angetastet. Dabei erlangte der verstaubte Song Contest vor ein paar Jahren in Österreich gerade durch die satirische Moderation des Komikerduos Stermann und Grissemann im Sender FM 4 wieder Kultstatus. Aber das war vor Conchita. Die Zeit der Ironie ist vorbei. Ernsthafte Begeisterung ist heute allererste Bürgerpflicht. 

Wien-Erdberg. Euro Fan Café. 

Je grösser die Distanz zum Epizentrum Stadthalle, desto schwächer die Wellen der Begeisterung. Im Euro Fan Café Vienna sind sie an diesem Abend kaum noch zu spüren. Die in einem Arbeiterquartier im Osten der Stadt gelegene Empfangshalle einer Computerfirma ist zwar als eine von drei grossen Fanzonen in jedem Orientierungsplan eingezeichnet. Aber nicht nur die zehn U-Bahn-Stationen lange Fahrt schwächt die Anziehungskraft: Trotz Lichtshow, Nebel und VIP-Bereich kann die Halle die kalte Büroatmosphäre nicht ablegen. Securitys schicken aufgeregt Funksprüche durch den leeren Saal. Ein paar englische Fans trinken Bier und wundern sich, wie sie hierhergekommen sind. 

Auf der verwaisten Bühne sollte Tony Wegas stehen, aber eine Stunde nach Konzertbeginn ist er noch nicht aufgetaucht. Wegas sang für Österreich 1992 und 1993. Ein 10. und ein 14. Platz machten ihn kurz zum Superstar. Dann wurde er drogensüchtig, raubte alten Damen die Handtaschen und musste ins Gefängnis. Im vergangenen Winter holte ihn die Satirikergruppe Wir Staatskünstler für einen TV-Auftritt zurück auf die Bühne: Wegas sang mit blonder Perücke eine Persiflage auf Conchita Wursts Siegeslied. Aus «Rise Like a Phoenix» wurde «Föhn like a reiss nix», eine Erinnerung an Zeiten, in denen Österreich mit Peinlichkeiten wie «Woki mit dein Popo» zu Recht auf den letzten Plätzen landete: «Nix reissen» ist ein Dialektausdruck für «nichts gewinnen». Ein Lied aus Österreich wurde von Fans zum schlechtesten ESC-Beitrag aller Zeiten gewählt. 

Nichts gewinnen konnten auch die Staatskünstler mit ihrer Satire. Bald nach der Ausstrahlung wurden sie vom ORF rausgeworfen, angeblich reichte das Budget nicht mehr. «Unsere Sendung wurde Opfer des Song Contest», sagt der Kabarettist Thomas Maurer. 

Haus der Europäischen Union. 

Ironie hat in der Arbeit von Dean Vuletic keinen Platz. Mit grossem Ernst forscht der gebürtige Kroate an der Wiener Universität über die politische Bedeutung des Song Contest. Das tat er früher auch, allerdings unbeachtet von der Öffentlichkeit. Seit Conchitas Sieg ist Vuletic ein gefragter Experte. Er erhielt einen Auftrag vom ORF und veranstaltet ein Symposium im Haus der EU zur Frage, welche Botschaften beim Song Contest erlaubt sind. Armenien musste dieses Jahr den Songtitel ändern: «Don’t Deny» war dem Veranstalter, der European Broadcasting Union (EBU) eine zu starke Aufforderung, den Völkermord von 1915 nicht zu verleugnen. «Wir müssen die Politik aus den Liedtexten raushalten», sagt EBU-Pressesprecher Dave Goodman. Conchitas Lied hingegen ging problemlos durch. Nicht ihr Text, sie selbst war die politische Botschaft. 

Für eine junge Nation sei die Präsentation beim Song Contest besonders wichtig, betont Kosovos Botschafter Sami Ukelli. Doch sein Land darf nicht teilnehmen. Die EBU akzeptiert nur Mitglieder der in Genf ansässigen Internationalen Fernmeldeunion (ITU), und die ITU nimmt nur Mitglieder der UNO auf. Aber nicht alle UNO-Staaten erkennen Kosovo als eigenen Staat an. «Es ist unfair», seufzt Ukelli bei der Veranstaltung im Europahaus: «Wir sind Opfer der Weltpolitik. Dabei wollen wir nur singen.» 

Vor dem Wiener Rathaus, Fanmeile. 

Auf der riesigen Asphaltfläche zwischen neoklassischem Burgtheater und neogotischem Wiener Rathaus herrscht Volksfeststimmung. Wie schon beim Wiener Eistraum, bei der Eröffnung der Wiener Festwochen oder dem Life Ball. Es gibt kaum noch Tage, an denen der Platz einfach Platz sein darf. Jetzt dient er als Fanmeile des Song Contest, und die Inszenierung ist für die Wiener altbekannt: grosse Bühne für die Unterhaltung, viele kleine Buden für das leibliche Wohl. Die mobilen Plastiktoiletten sind im angrenzenden Park versteckt. Mit Volksfesten kennt sich Wiens sozial­demokratische Stadtregierung aus, da kann ihr niemand etwas vormachen. Der Empfang beim Bürgermeister ist freilich nur für Auserwählte: «Da kommen Sie nur mit dem Zusatzpackerl RC hinein», sagt der Mann von der Security freundlich, aber bestimmt. RC? «Das steht für Red Carpet.» 

Was wird Wien vom Contest bleiben? Die Ampelpärchen auf alle Fälle. Wiens grüne Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou nutzte die Begeisterung der internationalen Presse und erklärte sie zum festen Bestandteil der Stadtbeleuchtung. Die Sozialdemokraten, die ihrem kleinen grünen Partner sonst nicht den kleinsten Erfolg gönnen, mussten wohl oder übel mitspielen und finden die Paare «witzig». In einem Büro der Stadtverwaltung gibt es schon T-Shirts mit den Ampelsujets zu kaufen. 

Möglicherweise wird Österreich tatsächlich toleranter. Möglicherweise aber auch nicht. Während von der Augen-Bühne in der Wiener Stadthalle aus Brücken zu anderen Kulturen gebaut werden sollen, werden in Salzburg osteuropäische Bettler per Dekret aus dem Zentrum verjagt, werden in Oberösterreich Flüchtlinge in Zelten untergebracht, weil die Bürgermeister feste Unterkünfte verweigern. «Brücken bauen» sei ein ausgezeichnetes Motto, sagt der schwule Parlamentsabgeordnete Marco Schreuder, der grösste Fan und grösste Song-Contest-Experte Österreichs: «Aber es braucht jetzt Menschen, die sich über diese Brücken auf die andere Seite wagen.»