Im Zweifel gegen den Angeklagten

26. Juli 2014

Puber: Die Zürcher Ermittler können aus den Fehlern der Wiener Justiz lernen. 

Das also war der gefürchtete Puber: Ein nicht mehr ganz junger Mann in weissem Hemd und schwarzem Sakko, der schüchtern auf der Anklagebank des Wiener Landesgerichts sass und zwei Tage lang nicht mehr als immer wieder sagte: «Das war ich nicht» oder «Das könnte ich gewesen sein».

Dieser Angeklagte hatte so gar nichts mit dem forschen Sprayer im schwarzen Kapuzensweater zu tun, der vor vier Jahren selbstbewusst im TA erklärt hatte: «Ich bin der Puber», und behauptete, er habe Tausende Graffiti gemacht, aber «keine Hundertstelsekunde» ein schlechtes Gewissen gehabt. Und doch. Der Angeber aus Zürich und der Angeklagte in Wien sind ein und dieselbe Person, daran besteht kein Zweifel.

Wäre Renato S. wirklich so mutig und unverfroren, wie er sich damals darstellte, hätte er vor dem Wiener Gericht zu seinen Taten stehen müssen. Doch S. zog es vor, in Untersuchungshaft zu schweigen und während der Verhandlung in der Möglichkeitsform zu bleiben. «Das war ich», gab er nur in jenen drei Fällen zu, die ihm eindeutig nachgewiesen werden konnten. Auf die Frage des Staatsanwalts nach seiner Motivation wusste er keine Antwort, die Bedeutung des Schriftzugs «Puber» konnte er nicht erklären.

Nicht in die Zange genommen

Nein, ein spannender Zeitgenosse ist dieser Puber nicht. S. war wohl ehrlich, als er 2010 dem TA seine Beschmierungen allein mit Eitelkeit erklärte: «Ich will, dass alle Menschen mich sehen und fragen: Was ist das?» Mehr werden wir über seine Beweggründe nicht mehr erfahren. Zwei volle Tage wurden in Wien 232 «Puber»-Schriften verhandelt und in mühevoller Kleinarbeit der mögliche Schaden eruiert. Doch darauf, den Angeklagten zu seinen Beweggründen, seiner Arbeitsmethode und möglichen Komplizen zu befragen, verzichtete der Richter. Vielleicht hätte S. die Aussage verweigert, vielleicht hätte er im Zeugenstand aber doch gesprochen. Einen Versuch wäre es wert gewesen.

Das nicht geführte Verhör war eine Schwäche dieses Verfahrens. Die Anklageschrift eine weitere. Deutlich zeigte sich, dass es schwer bis unmöglich ist, im Nachhinein «Tags», wie die Schriftzüge im Szenejargon heissen, einzelnen Sprayern zuzuordnen. Auch wenn S. das Wort «Puber» stets mit kleinem e schrieb (wie er behauptet), könnte es Nachahmer geben, die seinen Schriftzug beherrschen. Und auch wenn auffällt, dass die Schriftzüge «Puber» in einer Stadt auftauchten, wenn sich S. dort aufhielt (erst in Zürich, dann in Wien), so ist das ein Indiz, aber nicht Beweis genug in einem Strafverfahren. Die Staatsanwaltschaft bewegte sich mit ihrer Anklage auf dünnem Eis und wusste das auch.

Missbrauch der U-Haft

Um trotzdem ein Exempel zu statuieren, griff die österreichische Justiz im Fall S. auf eine gängige Praxis zurück, die von Rechtsexperten heftig kritisiert wird: Verdächtige werden lange in Untersuchungshaft gehalten und die Strafe dann der in U-Haft verbrachten Zeit angepasst, sodass die Beschuldigten keine finanzielle Entschädigung fordern können. Zu Beginn dieser Woche wurde zum Beispiel der deutsche Student Josef S. zu genau jenen sechs Monaten Gefängnis verurteilt, die er schon in Untersuchungshaft gesessen hatte (TA vom Mittwoch). Die Staatsanwaltschaft warf ihm vor, Rädelsführer einer gewalttätigen Demonstration gegen eine rechtsextreme Veranstaltung gewesen zu sein.

Nun wurde Renato S. nach vier Monaten U-Haft zu vier Monaten unbedingtem Gefängnis verurteilt. Ein Zufall? Oder doch System? Dass die Unschuldsvermutung aufgehoben und Untersuchungshaft als staatliche Machtdemonstration und Bestrafung eingesetzt wird, dürfte in einem Rechtsstaat nicht sein.

Es ist verständlich, dass die Behörde dem Treiben von Puber nicht tatenlos zusehen konnte. So wie in Zürich vor 2011 wurden die Schmierereien in Wien zu einer wahren Plage. Dennoch hätten die Ermittler gründlicher arbeiten müssen, hätte sich die Anklage nicht nur auf eine eher willkürliche Liste von 232 Fällen stützen dürfen, bei denen zum Teil nicht einmal ein Schaden entstanden war. Gegen Renato S. wird auch in Zürich ermittelt. Aus dem Verfahren in Wien könnten die Schweizer Ermittler wertvolle Erkenntnisse gewinnen: Für einen ordentlichen Prozess werden sie gründlicher als die österreichischen Kollegen arbeiten müssen.