Immer im toten Winkel

17. Juli 2012

Wer die Gefahr sucht, findet sie auf osteuropäischen Radwegen.

Von Bernhard Odehnal, Budapest

Radweg in Bratislava: «Steigen Sie vom Rad ab»

Jetzt ist es fast geschafft! Nur noch drei Fahrspuren wechseln und in die Abbiegespur einfädeln. Von hinten kommt der dunkle Schatten eines LKW immer näher. In letzter Sekunde weicht er nach links aus und zieht an mir vorbei, so knapp, dass ich fast unter seine Zwillingsräder gezogen werde. Weiterpedalen, nur weiter. Autos überholen mit Tempo 80, städtische Autobusse drängen mich an den Rand. Aber dann ist es geschafft. Einmal noch über die Tramschienen springen, zweimal Fussgängern ausweichen: Ich stehe vor meiner Wohnungstür. Und habe überlebt. Erneut.

Gibt es noch Abenteuer auf dieser Welt? Aber ja, Velofahren in Budapest ist jeden Tag ein hochriskantes Spiel. Eine Grenzerfahrung, wie man sie nur selten erlebt. Auf osteuropäischen Velowegen kann nur bestehen, wer sich selbst völlig unter Kontrolle hat und gleichzeitig für alle Überraschungen einer feindlichen Umwelt gerüstet ist. Seit dem Frühjahr wirbt die Stadtverwaltung mit Broschüren und grossen Plakaten für die friedliche Kohabitation von Fussgängern, Velo- und Autofahrern. In Wirklichkeit aber herrscht Krieg auf den Strassen. Jeder kämpft gegen jeden.

Dabei wäre die Stadt an der Donau eigentlich prädestiniert, zum Amsterdam Mitteleuropas zu werden. Zumindest was die Velofreundlichkeit betrifft. Hügel gibt es nur im Westen, der Grossteil Budapests ist flach, die Hauptstrassen sind breit, die Distanzen nicht allzu gross. Und die Budapester würden gerne auf das Velo umsteigen. Die halbjährlichen Demonstrationen der Velogruppe Critical Mass gehören zu den grössten in ganz Europa.

Vor zwei Jahren beschloss die Stadtregierung deshalb, mehrere Millionen Euro in die Entwicklung von Velowegen zu investieren. Doch das Ergebnis sieht eher aus, als hätten die Stadtväter die gezielte Tötung von Radfahrern zum Ziel. Zum Beispiel auf dem Karlsring, einer der wichtigsten Routen durch die Stadt. Die Velospur hört genau dort auf, wo sie am wichtigsten wäre: vor den grossen Kreuzungen. «Wir haben euch bis hierher gebracht», lautet die Botschaft der Verkehrsplaner, «jetzt müsst ihr euch selbst durchschlagen.» Auf der anderen Seite des Rings führt der Radstreifen auf der Fahrbahn elegant links an einer Bushaltestelle vorbei. Wenn die langen Gelenkbusse aus der Haltestelle ausfahren, sind Velofahrer genau in ihrem toten Winkel.

Ein anderer Wahnsinn konnte sich dann doch nicht durchsetzen. Auf dem prachtvollen Andrassy-Boulevard führte ein schmaler Veloweg rechts an der Parkspur vorbei, die Velofahrer waren zum Abschuss durch aufgehende Autotüren freigegeben. Ein durchaus kreativer Ansatz, der vor kurzem einem Velostreifen auf der Fahrbahn weichen musste. Vermutlich auf Anordnung Brüssels: wieder so ein Diktat der Europäischen Union.

Apropos EU: Die gab viel Geld für die Renovierung der historischen Margitbrücke über die Donau und verlangte dafür den Bau breiter Velostreifen auf der Fahrbahn. Tatsächlich wurde ein schmaler Veloweg auf dem Gehsteig markiert, mit viel zu wenig Platz für die vielen Fussgänger und Radfahrer, die an schönen Tagen auf die Margitinsel strömen. Brüssel zahlte trotzdem.

Andere Städte sind nicht weniger kreativ. Die Bukarester Verwaltung etwa liess vor ein paar Jahren rote Striche auf Gehsteige pinseln und erklärte sie zu Velowegen. Heute dienen sie hauptsächlich als Parkplätze. Wer mit dem Velo fährt, kommt so zum Vergnügen eines anspruchsvollen Hindernisparcours.

Selbst in der für Autos gebauten slowakischen Hauptstadt Bratislava wurden einzelne Velofahrer gesichtet. Die Stadtregierung reagierte sofort mit dem Bau des ersten Radwegs. Natürlich nicht im Zentrum. Der Weg führt rund 300 Meter durch ein Industriequartier am Stadtrand. Bei jeder Seitengasse, Garagenausfahrt oder Bushaltestelle fordern grosse blaue Schilder die Benutzer auf: «Steigen Sie vom Rad.» Ziemlich sicher wurden die Schilder von der EU finanziert.