Ins Ausland, um in der Heimat leben zu können

12. März 2013

Die Caritas bringt in einem Pilotprojekt Rumäninnen und Rumänen zum temporären Pflegedienst in die Schweiz. László Mikola beginnt diese Woche seinen dreimonatigen Dienst im Kanton Zürich.

Zum Abschied bekommt László Mikola von der Projektleiterin ein weisses Kuvert mit einem Brief. Er hat ihn selbst geschrieben, zu Beginn des Intensivkurses, der ihn auf seinen Einsatz in der Schweiz vorbereitete. «Schreibt genau die Gründe auf, warum ihr ins Ausland wollt», sagte die Projektleiterin damals: «Und wenn ihr Heimweh bekommt oder an euch zweifelt, dann öffnet den Brief.» Mikola nimmt das Kuvert und steckt es in die Reisetasche, zusammen mit einem Foto seiner Frau und den beiden Töchtern. Dann steigt er in einen Car, der ihn aus dem östlichen Rumänien in die Schweiz bringt. Quer durch das immer noch tief verschneite Siebenbürgen, quer durch Ungarn und Österreich. 30 Stunden dauert die Fahrt.


László Mikola und seine Tochter Csengele in ihrem Heimatdorf Turia, Rumänien. Foto: B. Odehnal

Diese Woche beginnt der 38-Jährige seinen Dienst in einer kleinen Zürcher Gemeinde. Drei Monate lang wird er im Haus eines alten, demenzkranken Mannes leben, wird ihn betreuen, ihm Gesellschaft leisten und den Haushalt führen. Die Arbeit werde ihm Freude machen, glaubt Mikola. Nur vor Sprachproblemen fürchtet er sich. Wird der zweimonatige Kurs reichen, um Gespräche zu führen? Mikola macht sich Mut: Der Anfang werde hart, «aber nach drei, vier Wochen werde ich auch Schwizertütsch verstehen.»

Projektleiterin Maria Pfemeter beruhigt: Die Schweizer seien geduldig, hilfsbereit und fröhlich. «Und das Leben ist viel langsamer als hier.» Pfemeter ist Ungarin, lebt in Rumänien und spricht fliessend Deutsch. Im Herbst arbeitete sie zwei Monate als Pflegerin in der Schweiz, um erst einmal selbst Erfahrungen zu sammeln und ihren Schützlingen Ratschläge mit auf den Weg geben zu können. Vor allem der Gemeinschaftssinn der Schweizer hat sie beeindruckt. Und dass sie so viel Lob bekam, «das kenne ich aus Rumänien nicht».

Monatlich 2700 Franken netto

Vor drei Monaten stellte die Caritas Schweiz das Pilotprojekt «In guten Händen» vor: In Kooperation mit der Partnerorganisation in der rumänischen Diözese Alba Iulia holt sie ausgebildete Pfleger, Krankenschwestern oder Sozialarbeiter aus Rumänien für drei Monate in die Schweiz, wo sie als Ergänzung zur Spitex gebrechliche, bettlägerige Menschen pflegen. Mit diesem Modell sollen sowohl Betreuer und Betreuerinnen als auch Patienten aus dem Graubereich der illegalen Pflege geholt werden. Die Männer und Frauen aus Rumänien bekommen einen Wohnplatz und, nach Abzug von Steuer und Sozialversicherung, monatlich etwa 2700 Franken netto. Nach drei Monaten müssen sie zurück zu ihrer Arbeitsstelle in der Heimat, ebenfalls für mindestens drei Monate. Danach können sie wieder in die Schweiz kommen.

Die Idee zum Projekt kam aus Rumänien und entstand aus einer Notsituation, erklärt György Péter, Abteilungsleiter der Caritas in der Kleinstadt Miercurea Ciuc: In Rumänien wird die Caritas immer mehr gebraucht, weil die staatlichen Betreuungseinrichtungen versagen. Sie kann aber auch nur landesübliche Hungerlöhne zahlen, weshalb viele junge Pflegerinnen und Sozialarbeiter bald nach der Ausbildung in den Westen emigrieren. Péter verliert jedes Jahr an die zehn Prozent seiner Mitarbeiter.

Durch den Auslandseinsatz auf Zeit bekommen einerseits rumänische Caritas-Mitarbeiter die Chance, ihr Gehalt zu vervielfachen. Anderseits muss ihr Arbeitgeber nicht auf wertvolles Fachwissen verzichten. Die Caritas schickt also ihre Mitarbeiter ins Ausland, um sie in der Heimat zu halten. Und in der Schweiz bekommen die Gepflegten und ihre Angehörigen die Sicherheit, dass sie von Fachkräften betreut werden. In der ersten Phase schickt die Caritas Alba Iulia ausschliesslich eigene Angestellte, «denn für sie können wir garantieren», sagt György Péter.

László Mikola hat Sozialarbeit studiert, arbeitet im Caritasbüro der Kleinstadt Targu Secuiesc und lebt mit seiner Familie etwas ausserhalb, in einem Dorf namens Turia. Seine Frau Eva unterrichtet dort an der Grundschule, die ältere Tochter, Csengele, geht ins Gymnasium, die jüngere, Anna, in den Kindergarten. Die Mikolas leben nicht schlecht, sie haben ein Auto und eines der grössten Häuser im Dorf. Doch wie so vielen Familien aus der neuen Mittelklasse fehlt ihnen die finanzielle Substanz. Mit einem monatlichen Familieneinkommen von rund 700 Franken kommt man auch in Rumänien nicht weit. Das Geld reiche gerade zum Leben, sagt Mikola, «aber nicht mehr, wenn man krank wird. Oder ein Haus baut». Mit dem Lohn aus seinem ersten Auslandseinsatz will er den Hypothekarkredit abzahlen. Was er danach von weiteren Einsätzen nach Hause bringt, wird in die Ausbildung der Kinder fliessen. Sie sollen die Universität besuchen, vielleicht für ein, zwei Semester ins Ausland gehen. Aber sie sollen sich vor allem eine Existenz in der Heimat aufbauen können.

Rumänen kommen als Ungarn

Mikola und seine Kollegen, die demnächst in der Schweiz arbeiten werden, leben im sogenannten Szeklerland. Bis 1920 gehörte die Region zu Ungarn, noch heute sprechen die meisten Menschen Ungarisch als Muttersprache. Die Orts-, Strassen- oder Bahnhofsnamen sind ungarisch und rumänisch. Es gibt ungarische Schulen, ungarische Zeitungen und ungarische Parteien. Die ungarische Regierung betrachtet die Szekler trotzdem als unterdrückte Minderheit und macht es ihnen deshalb leicht, die ungarische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Die Einbürgerung ist umstritten, ermöglicht jetzt aber den Einsatz der rumänischen Caritas-Mitarbeiter in der Schweiz. Das Schweizer Arbeitskontingent für Rumänen ist ausgeschöpft. Die Pfleger aus dem Szeklerland reisen mit ungarischen Pässen ein.

Die Szekler verstehen sich als besondere Volksgruppe unter den Ungarn: selbstbewusster, eigenständiger, auch sturer. In Rumänien aber kämpfen sie mit denselben Problemen wie alle anderen. Mit schlechten Strassen und noch schlechteren Bahnen, mit heruntergekommenen Schulen und verwahrlosten Spitälern. Ärzte, die zwischen 600 und 800 Franken im Monat verdienen, sind kaum motiviert, gute Arbeit zu leisten. Wer behandelt werden will, muss Spaga zahlen - Schmiergeld. Die Korruption im Gesundheitssystem sei ein besonders starkes Motiv zum Auswandern, sagt Attila Antal, Vizebürgermeister von Miercurea Ciuc.

Das administrative Zentrum des Szeklerlands hatte vor zehn Jahren 42 000 Einwohner, heute sind es nur noch 37 000. Antal glaubt aber, dass die Talsohle erreicht sei. Wer weg wollte, sei gegangen. «Wer jetzt noch hier ist, will bleiben.» Nur müssten die Menschen ihre Mentalität ändern: Selber etwas tun und nicht vom Staat erwarten, dass er ihnen Arbeit gebe. So wie jene Bauern, die durch Vermittlung der Caritas in der Schweiz ein Praktikum machten. Oder eben das Programm «In guten Händen»: «Es ist gut, dass Leute teilnehmen, die bei uns einen festen Arbeitsvertrag haben», sagt der Politiker. «So können sie ihre in der Schweiz gemachten Erfahrungen bei uns einsetzen.»

Welche Erfahrungen wird László Mikola machen, wenn er nach 30 Stunden Busfahrt in der Schweiz ankommt? Gemeinsam mit seiner Tochter hat er die Gemeinde gegoogelt, in der er drei Monate verbringen wird. Die 12-jährige Csengele ist zuversichtlich: «Mein Vater ist sehr geschickt, er wird gut zurechtkommen.» Mikolaweiss natürlich, dass er für den Job überqualifiziert ist. Als diplomierter Sozialarbeiter macht er «einfache pflegerische Handreichungen», wie es im Fachjargon heisst. Dass er als Mann putzen und kochen müsse, sei kein Problem: «Das mache ich zu Hause auch.» Nur die Umstellung von rumänisch-ungarischer auf Schweizer Küche könnte schwierig werden. Dass Schweizer «gesünder essen, ohne Schmalz aber mit viel Gemüse», hat er von Projektleiterin Pfemeter gelernt. Sie hat ihm auch ein Kochbuch mitgebracht: «Tiptopf», das Standardwerk des Schweizer Hauswirtschaftsunterrichts.

Kuvert als Rückversicherung

Was aber, wenn die Familie doch zu weit weg ist? Wenn das tägliche Gespräch via Skype das Heimweh nicht lindern kann? Die Schweizer Sprache ein spanisches Dorf bleibt? Dann hat László Mikola noch das weisse Kuvert mit dem Brief, den er zu Beginn der Ausbildung selbst geschrieben hat. Wie hat er sich darin motiviert? Er könne sich gar nicht mehr erinnern, was er damals geschrieben habe, sagt László Mikola und lächelt: «Aber ich bin fast sicher, dass ich das Kuvert nie öffnen muss.»