Seltsame Wege durch die Schweiz

31. Oktober 2014

Zum zweiten Mal innert kurzer Zeit hat sich Ungarns Regierungschef Viktor Orban privat in Zürich aufgehalten. Die Hintergründe der Besuche sind mysteriös.

Budapest in der letzten Oktoberwoche: Zehntausende junge Menschen gehen auf die Strasse. Sie protestieren gegen eine geplante Internetsteuer und gegen Korruption in der Regierung von Viktor Orban. Gleichzeitig bestätigt die amerikanische Botschaft Medienberichte, dass sechs hohe Beamte oder Minister aus Ungarn nicht mehr in die USA einreisen dürfen, weil sie in Verdacht stehen, von US-Unternehmen Bestechungsgeld verlangt zu haben. Beide Ereignisse treffen die ungarische Regierung unvorbereitet und bringen sie in die Defensive. Und was macht der wegen seiner autoritären Politik international in die Kritik geratene Regierungschef Orban? Er verbringt Ferien in der Schweiz.


Viktor Orban im Zürcher Hauptbahnhof. Quelle: 444.hu

Zumindest ist das die Darstellung des Regierungssprechers Bertalan Havasi: Der Ministerpräsident sei nach Zürich gekommen, um ein paar Tage mit seiner Familie zu verbringen, richtet Havasi dem TA aus. Seit gestern Donnerstag sei Orban aber wieder in Budapest. Ungarische Medien berichten, dass Orbans älteste Tochter Rachel gerade ein postgraduates Masterstudium an der Hotelfachschule Lausanne beginnt. Rachel ist der ganze Stolz des Vaters. Als sie vergangenes Jahr einen Unternehmer heiratete, wurden die Strassen zur Kirche und zum Anwesen des Bräutigams neu geteert. Regierungskritische Zeitungen spotteten über eine «Prinzessinnenhochzeit». Kein Wunder also, dass Orban die 25-Jährige auch im Ausland besucht.

Beim Bier im HB Zürich

Das aber erklärt nicht seinen Umweg über Zürich. Orban nahm beim Rückweg offenbar nicht das Flugzeug von Genf nach Budapest, sondern wählte den Zug: Vierzehneinhalb Stunden Fahrt mit Umsteigen in Zürich. Was bewegte den Spitzenpolitiker zu dieser eher bodenständigen Art des Reisens? Ein Leser oder eine Leserin des ungarischen Internetportals 444.hu machte am Mittwochabend ein Foto im Zürcher Hauptbahnhof. Darauf ist Orban zu sehen, er sitzt beim Eingang zur SBB-Lounge an einem kleinen runden Tisch vor einem Glas Bier. Das Sakko hat er ausgezogen. Begleiter oder Bodyguards sind nicht zu sehen. Ihm gegenüber sitzt ein älterer Mann mit dem Rücken zur Kamera. Das ungarische Internetportal bittet die Leser um Auskunft: Kennt jemand diesen Mann?

Für Orban ist es mindestens der zweite Besuch in Zürich innert weniger Monate. Ende August hielt er sich gemeinsam mit seinem engsten Vertrauten, Kanzleramtsminister Janos Lazar, und den beiden Ehefrauen für einen Tag in der Stadt auf. Gespräche mit Schweizer Politikern fanden nicht statt. Entdeckt wurde der Aufenthalt nur, weil der Regierungschef beim Rückflug in der Businessklasse von Mitreisenden fotografiert wurde, die das Bild an die ungarische Boulevardzeitung «Blikk» schickten. Orban liess der Presse ausrichten, er sei für ein «Konzert in der Basilika» nach Zürich gereist.

Tatsächlich trat an diesem Abend im Grossmünster ein Jugendorchester der ungarischen Minderheit in Rumänien auf, und Orban war nachweislich anwesend. Dass er extra für die musizierende Jugend in die Schweiz reiste, ist als Begründung aber nicht sehr überzeugend. In der Woche zuvor war dasselbe Jugendorchester durch Ungarn getourt. Im Juni war es sogar im Budapester Parlament aufgetreten, wo auch der Ministerpräsident sein Büro hat. Hätte Orban wirklich die Jungmusiker aus Siebenbürgen hören und sehen wollen, hätte er damals nur über den Gang gehen müssen.

Orban hat eine gut besuchte und intensiv betreute Facebook-Seite. Jeder Betriebsbesuch, jede Auslandsreise, jede Fahrt durch die Provinz ist darauf in Text und vielen Bildern dokumentiert. Auch Fotos von Familie und Freunden dürfen nicht fehlen. Nur die Reisen in die Schweiz kommen überhaupt nicht vor. Die betreffenden Tage existieren in der Chronik des Regierungschefs einfach nicht.

Die ungarische Botschaft in Bern bestätigte dem TA die Aufenthalte Orbans in der Schweiz, sowohl im August als auch diese Woche: Es habe sich um Privatbesuche gehandelt. Die Frage, wen der Ministerpräsident traf, wollte die Botschaft nicht beantworten. Das Aussendepartement (EDA) teilte mit, dass seit seinem Amtsantritt kein offizieller Besuch von Orban in der Schweiz stattgefunden habe: «Zu privaten Reisetätigkeiten ausländischer Behördenmitglieder äussert sich das EDA nicht.»

Vor zehn Tagen kamen 65 ungarische Roma mit dem Reisecar in die Schweiz und suchten um Asyl nach (der TA berichtete). Der Exodus der Roma blieb auch in Ungarn nicht unbemerkt. Mit seinen Landsleuten in den Schweizer Asylzentren nahm der Regierungschef allerdings keinen Kontakt auf.