Ungarn ehrt den Schweizer Carl Lutz

23. April 2013

Mit einem Gedenkmarsch ist in Budapest an die Holocaustopfer und an den Schweizer Vizekonsul erinnert worden, der im Zweiten Weltkrieg viele Juden gerettet hatte. Neonazis störten den Anlass.

Der Anlass in Budapest beginnt mit einer Provokation. Während sich Zehntausende an diesem sonnigen Sonntagnachmittag unterhalb der Margaretenbrücke versammeln für den jährlichen Gedenkmarsch an die Holocaustopfer, hängen Neonazis ein Transparent über das Brückengeländer, das Israel auffordert, die Finger von Ungarn zu lassen. Es dauert nur zwei Minuten, bis beherzte Zuschauer den Neonazis das Transparent entreissen. Bis die ungarische Polizei zur Stelle ist, dauert es allerdings entschieden länger.


Agnes Hirschi auf dem Marsch der Lebenden in Budapest. Foto: B. Odehnal

Die Teilnehmer des Gedenkmarsches reagieren mit den einzigen Mitteln, die sie haben: mit Pfiffen, Buhrufen und dem Schwenken der kleinen, zuvor verteilten Fahnen von Ungarn, Israel und der Schweiz.

In der Heimat bestraft

Einmal im Jahr findet in Budapest dieser «Marsch des Lebens» statt, jedes Mal hat er einen anderen Schwerpunkt. Heuer steht Carl Lutz im Mittelpunkt des Gedenkens, jener Schweizer Diplomat, der unter Überschreitung seiner Kompetenzen als Vizekonsul in Budapest von 1942 bis 1945 Tausenden von ungarischen Juden das Leben rettete.

In der Schweiz wurde Lutz nach Kriegsende für sein eigenmächtiges Handeln bestraft. In Budapest aber marschierten vorgestern über 20 000 Menschen über den Carl-Lutz-Quai. Sie marschierten entlang der Donau, in der kurz vor Kriegsende die Leichen ermordeter Juden trieben, und entlang jener Schutzbauten, in denen Lutz viele Juden vor der Mordmaschine der deutschen Nazis und der ungarischen Pfeilkreuzler in Sicherheit zu bringen vermochte.

Am Marsch nimmt auch Agnes Hirschi teil, die in Bern lebende Tochter von Lutz, die als Sechsjährige mit ihrem Vater die letzten Kriegstage in einem Keller unter der Budapester Burg verbrachte. In ihrer Rede zum Abschluss des Gedenkmarsches erinnerte sie an den Mut und die Leistung ihres Vaters und bedankte sich bei allen Teilnehmern «für dieses berührende Erlebnis». Es sei wunderbar, «dass Lutz hier endlich zu Ehren kommt», sagte sie dem TA. Hirschi, die Budapest zwei- bis dreimal im Jahre besucht, wies darauf hin, wie präsent der Antisemitismus auch heute im ungarischen Alltag sei. Als sie letztes Jahr das Denkmal für die ermordeten Juden am Donauufer fotografiert habe, habe ihr aus einem fahrenden Auto jemand zugerufen: «Ihr dreckigen Juden.»

Schuld sind die anderen

Ähnliche Erfahrungen hat Agnes Polgar gemacht. Die in Zürich lebende gebürtige Ungarin hat Grosseltern, Onkel und Tanten im Konzentrationslager verloren. Ihre Mutter überlebte Auschwitz, ihr Vater Dachau. Sie selbst wanderte mit ihrer Familie 1991 in die Schweiz aus. Aus beruflichen Gründen, aber auch, weil der Antisemitismus schon damals spürbar gewesen sei, wie sie dem TA am Gedenkmarsch erzählte. Je schlimmer die wirtschaftliche Lage in Ungarn werde, desto stärker würden Fremde dafür verantwortlich gemacht: jüdische Banker oder die deutsche Kanzlerin Angela Merkel.

Die Regierung von Viktor Orban schüre diese Emotionen noch, so Polgar. Ein Leben in Budapest kann sie sich nicht mehr vorstellen: «Es wäre nicht gut für meine Gesundheit. Ich sähe den Hass – und dass ich nichts dagegen tun kann.» Dass ein ungarischer Neonazi am Sonntag in einem T-Shirt antrat, auf dem «Juden ins Gas» stand, schien ihre Befürchtung zu bestätigen.

Die Provokationen gegen den Gedenkmarsch kamen nicht überraschend: Eine rechtsextreme Motorradgruppe hatte unter dem Motto «Gib Gas» zu einer Sternfahrt auf die Grosse Synagoge aufgerufen. Orban persönlich verbot daraufhin die Bikerfahrt. Ein zweiter Versuch, die Fahrt unter anderem Namen anzumelden, wurde von den Behörden ebenfalls unterbunden. Und in der südungarischen Stadt Pécs verhaftete die Polizei 18 Neonazis, die Adolf Hitlers Geburtstag am 20. April feiern wollten.

Orban erntet für einmal Lob

Ungarns Regierung bemüht sich dieser Tage offensichtlich, Haltung gegen antisemitische Aktionen zu demonstrieren. Sie steht derzeit unter besonderer Beobachtung: Vom 5. bis 7. Mai wird der World Jewish Congress (WJC) seine Jahresversammlung in Budapest abhalten und über den «alarmierenden Aufstieg von Neonaziparteien in Europa» diskutieren. Als Hauptredner ist der deutsche Aussenminister Guido Westerwelle geladen. Auch Viktor Orban wird eine Rede halten. Sein Verbot der rechtsextremen Bikerfahrt brachte ihm bereits das Lob der amerikanischen Anti-Defamation-League und des israelischen Botschafters ein.

Die Haltung von Orban ist freilich nicht immer eindeutig. Der ungarische Regierungschef zeigte sich unlängst bei der Jubiläumsfeier seiner Partei Fidesz demonstrativ an der Seite des Publizisten Zsolt Bayer, der immer wieder mit antisemitischen Kommentaren auffällt. Unter anderem bedauerte er auch schon, dass nicht alle jüdischen Intellektuellen ermordet worden seien. Zur rechtsextremen Partei Jobbik geht Orban zwar auf Distanz, seine Partei ist aber auf lokaler Ebene durchaus zur Zusammenarbeit bereit. Wenn Jobbik neue Denkmäler oder Strassennamen für antisemitische Schriftsteller oder Politiker der Zwischenkriegszeit vorschlägt, sorgt Fidesz für Mehrheitsbeschlüsse in den Gemeinderäten.


Ungarische Neonazis versuchen, den Gedenkmarsch zu stören. Foto: B. Odehnal

Die Haltung der ungarischen Polizei gegenüber Rechtsextremen scheint von Toleranz und Verständnis geprägt. Jene Neonazis, die am Sonntag den «Marsch des Lebens» störten, wurden von den Gesetzeshütern mit Samthandschuhen angefasst. Lang durften sie auf der Brücke stehen und ihre T-Shirts zur Schau tragen, auf denen der Holocaust geleugnet oder zur Vernichtung der Juden aufgerufen wurde.

Am Tag vor dem Gedenkmarsch hatte Regierungschef Orban den Organisatoren versichert, dass der ungestörte Ablauf der Veranstaltung und die Würde der Teilnehmer «mit allen Mitteln gesichert» werde. Bis zu den Sicherheitskräften drang dieses Versprechen offenbar nicht durch.