Ungarns letzte liberale Zeitung bangt um ihre Existenz

8. August 2012

«Népszabadság» gehört zu den wenigen ungarischen Medien, die kritisch über die Regierung berichten. Nun herrscht Unruhe auf der Redaktion: Will der Schweizer Medienkonzern Ringier das Blatt verkaufen?

Von Bernhard Odehnal, Wien

Das Bürohaus in der Budapester Becsi ut (Wiener Strasse) ist gespenstisch leer. Wo einst Hunderte Menschen arbeiteten, sind Zimmer und Gänge verwaist. Nur die Redaktionsbüros der Zeitung «Népszabadság» sind noch besetzt. Aber die Stimmung ist schlecht, geprägt von Nervosität und Gerüchten. Ungarns letzter grosser unabhängiger Zeitung droht der Verkauf und damit ein ungewisses Schicksal.

Die Business-Website Hvg.hu berichtet, dass der Schweizer Medienkonzern Ringier seine Mehrheit am Népszabdság-Verlag verkaufen werde. Bei einer Sitzung in Berlin habe Ringier dem Minderheitseigentümer des Verlags, der Stiftung «Freie Presse» (Szabad Sajtó), seine Anteile um den symbolischen Preis von einem Euro angeboten. An dem Treffen habe auch der ehemalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder als Ringier-Berater teilgenommen. Da die Stiftung aber kein Geld für den Erhalt der Zeitung habe, drohe ein weiterer Verkauf oder die Schliessung. Für Hvg.hu agiert Ringier in Ungarn wie ein «Schweizer Bulldozer».

Ringier schweigt

Der «Tages-Anzeiger» bat sowohl Ringier Ungarn als auch die Ringier-Zentrale in Zürich um eine Stellungnahme, erhielt aber zur Antwort, dass man Gerüchte grundsätzlich nicht kommentiere und zu Geschäftsbeziehungen keine Angaben mache. Mehrere Mitarbeiter von «Népszabadság» wollten zwar sprechen, aber nur unter der Bedingung, dass ihre Namen nicht genannt werden: Der Geschäftsführer von Ringier Ungarn, Attila Mihok, sei vor einigen Tagen in der Redaktion aufgetaucht und habe die Mitarbeiter aufgefordert, Ruhe zu bewahren und nicht den Kontakt zu anderen Medien oder Parteien zu suchen. Die Journalisten erzählen auch von Vorgängen, die nur durch den geplanten Verkauf der Zeitung zu erklären sind.

Ringier kaufte «Népszabadság» («Freiheit des Volkes») 2002 vom deutschen Bertelsmann-Verlag. Derzeit halten die Schweizer 72 Prozent am Zeitungsverlag, 1 Prozent gehört der Redaktion und 27 Prozent der Stiftung «Freie Presse», die von den ungarischen Sozialisten kontrolliert wird.

Ringier sollte dieses Jahr die Anteile der Stiftung übernehmen, die räumliche Fusion war bereits im Gang: Im Frühjahr übersiedelten Vertrieb und die Anzeigenabteilung von «Népszabadság» aus der Becsi-Strasse in das Haupthaus von Ringier im Zentrum Budapests. Die Redaktion sollte folgen und sass bereits auf gepackten Koffern, als die Übersiedlung abgebrochen wurde. «Jetzt wissen wir nicht, wie es weitergehen soll», sagt ein Journalist.

Dramatischer Auflageschwund

Zur Produktpalette von Ringier Ungarn gehören Jugend-, Koch- , TV- und Frauenmagazine sowie Onlineportale. Flaggschiffe sind die grosse Sportzeitung «Nemzeti Sport» und die Boulevardzeitung «Blikk» - mit noch mehr Klatsch und Society und noch weniger Politik als der Schweizer «Blick». «Népszabadság» ist die einzige Qualitätszeitung des Konzerns. Das 1956 gegründete Blatt war noch lange nach der Wende die grösste Tageszeitung Ungarns, verlor jedoch in den vergangenen Jahren viele Leser an das Internet und an die Gratiszeitung «Metropol». Die Auflage ging von 300 000 Exemplaren im Jahr 1994 auf 63 000 im vergangenen Jahr zurück. Seit zwei Jahren ist die Zeitung in den roten Zahlen.

Mitarbeiter glauben jedoch, dass nicht die wirtschaftliche Lage, sondern eine strategische Entscheidung der Grund für die Verkaufsabsicht der Schweizer ist. In den Nachbarländern Tschechien, Slowakei, Serbien und in Polen hat Ringier seit zwei Jahren Gemeinschaftsunternehmen mit dem deutschen Axel-Springer-Verlag. In Ungarn soll dieser Zusammenschluss nun nachgeholt werden, allerdings ohne die letzte Qualitätszeitung im Portfolio. Hvg.hu schreibt auch von Vermutungen, dass die von der Regierung kontrollierte Medienbehörde NMHH einer Fusion von Ringier und Axel Springer in Ungarn nur nach einem Verkauf von «Népszabadság» zustimmen würde. Dafür gibt es aber keine Bestätigung.

«Népszabadság» gehört heute zu den wenigen Medien in Ungarn, die kritisch über die Politik von Regierungschef Viktor Orban und seine Partei Fidesz berichten und Themen aufgreifen, die nicht in die nationalistische Stimmung im Land passen. Während etwa andere Medien die Entdeckung des mutmasslichen NS-Kriegsverbrechers László Csatary nur kurz meldeten, bot die Zeitung als erste ausführliche Hintergrundinformationen.

Ungarns öffentlich-rechtliche Radio- und Fernsehsender stehen unter direkter Kontrolle der Regierungspartei, ebenso die Nachrichtenagentur MTI. Private Sender sind entweder unpolitisch, regierungstreu oder stehen im Einfluss der rechtsextremen Partei Jobbik. Bei den Zeitungen ist die Situation ähnlich. Dem letzten linken Radiosender, Klubradio, droht der Entzug der Lizenz. Unabhängige Informationen und Recherchen bieten Onlineportale wie «Index» oder «Origo». Sie werden von immer mehr Ungarn gelesen, auch die Website von «Népszabadság» verzeichnet steigende Zugriffszahlen.

Auch bei Sozialisten unbeliebt

Die Regierung Orban betrachtet «Népszabadság» als Sprachrohr der sozialistischen Oppositionspartei MSZP. Tatsächlich haben aber auch die Sozialisten keine Freunde an deren kritischer Berichterstattung. Sie riefen deshalb ihre Mitglieder zum Kauf der kleineren, aber linientreuen Tageszeitung «Népszava» auf. Da auch diese Zeitung finanziell schwer angeschlagen ist, gilt es als völlig ausgeschlossen, dass die Sozialisten über ihre Stiftung zwei Zeitungen erhalten könnten. Wahrscheinlich ist, dass die «Freie Presse» für «Népszabadság» einen Käufer suchen oder die Zeitung einstellen muss.

Dieses Szenario gab es schon einmal in Ungarn, unter Schweizer Beteiligung. Im Jahr 2000 kaufte Ringier die damals führende linksliberale Zeitung «Magyar Hírlap». Vier Jahre später aber konnten die Schweizer mit der Zeitung nichts mehr anfangen und wollten sie schliessen. Die Redaktion versuchte die Zeitung in Eigenregie weiterführen, scheiterte aber. 2005 wurde sie an den Unternehmer Gábor Széles verkauft, einen Freund Orbans und Financier seiner Partei. Széles verordnete ihr einen konservativen, nationalistischen Kurs. Heute darf ein Kolumnist in «Magyar Hírlap» regelmässig übelste antisemitische Hetze schreiben und Linken und jüdischen Intellektuellen den Tod wünschen.