Ungarns Regierungschef rüttelt an Europas Grundwerten

1. Mai 2015

Mit einer Bemerkung zur Einführung der Todesstrafe und einer manipulativen Befragung zur Flüchtlingspolitik ärgert Viktor Orban die EU. Brüssel reagiert mit einer Kampfansage, die Wirkung zeigt.  

Ein Überfall am helllichten Tag: In der südungarischen Kreisstadt Kaposvar raubte am 23. April ein junger Mann einen Tabakladen aus, stach dabei die 21-jährige Verkäuferin nieder und verletzte sie so schwer, dass sie kurz danach starb. Der Täter konnte mit 22 000 Forint (76 Franken) fliehen, wurde aber kurz danach von der Polizei gefasst. Der brutale Mord erschütterte das Land, kam aber nicht ganz überraschend. 

Vor einigen Jahren hatte die Fidesz-Regierung mit ihrer absoluten Mehrheit die Tabaklizenzen neu vergeben und die «nationalen Tabakläden» eingeführt. Dort werden Zigaretten und Alkohol verkauft, allerdings dürfen die Waren nicht von der Strasse her zu sehen sein. So machen diese nationalen Läden mit abgedeckten Fensterscheiben und verhüllten Türen nicht nur einen besonders schmuddeligen Eindruck, sie laden zum Verbrechen geradezu ein. Die ungarische Polizei verzeichnet seit der Neuvergabe der Tabaklizenzen einen signifikanten Anstieg an Überfällen, hauptsächlich auf Tabakläden. 

Dieses Problem erwähnte Regierungschef Viktor Orban freilich mit keinem Wort, als er diese Woche bei seinem Besuch der Stadt Pecs auf den Mord im 60 Kilometer entfernten Kaposvar zu sprechen kam. Orban machte sich Sorgen, dass die von seiner Regierung verschärften Strafgesetze noch immer nicht scharf genug wären. Man müsse deshalb «die Todesstrafe auf der Tagesordnung behalten»: Alle sollten wissen, «dass wir vor nichts zurückschrecken». Ungarn hat schon jetzt seit der von Orbans Partei Fidesz beschlossenen Gesetzesänderungen eines der strengsten Strafgesetze in Europa. Unter anderem können Richter bei der Verhängung einer lebenslangen Haftstrafe die vorzeitige Entlassung ausschliessen. 

Die Wiedereinführung der Todes­strafe wurde in Ungarn bis jetzt nur von der rechtsradikalen Partei Jobbik offen gefordert. Dass nun der Regierungschef das Thema aufgreift, werten ungarische Medien als Zeichen seiner Angst vor der rechtsextremen Konkurrenz. In Umfragen verliert Fidesz immer stärker an Wählergunst, während Jobbik schnell aufholt und nur mehr wenige Prozentpunkte hinter der Regierungspartei liegt. Bei Nachwahlen für ein Parlamentsmandat vor zwei Wochen konnte sich überraschend der Jobbik-Kandidat gegen den von Orban unterstützten Fidesz-Kandidaten durchsetzen. 

Gleichzeitig lenkte Orban mit seinem Nebensatz zur Todesstrafe von anderen Problemen ab: Die wirtschaftliche Lage in Südungarn ist schlecht, doch staatliche Investitionen fliessen in teure Prestigeprojekte wie den Bau neuer Fussballstadien. Viele kleine Investoren wurden durch die Pleite einer grossen Brokerfirma getroffen, die lange unter dem Schutz der Regierungspartei stand. 

In der EU reagierten, wie üblich, sozialdemokratische, liberale und grüne Abgeordnete scharf. Zum ersten Mal rücken aber auch konservative Abgeordnete von ihrem ungarischen Parteikollegen ab. Der Österreicher Othmar Karas erklärte in einem Interview, Orban stelle sich mit seiner Aussage ausserhalb europäischer Grundwerte und ausserhalb des europäischen Rechts. Wenn er darauf beharre, habe er in der europäischen Volkspartei keinen Platz mehr. Andere EVP-Abgeordnete wiegeln hingegen ab: Orban habe es wohl nicht ganz so ernst gemeint. 

Deutliche Worte fand EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Er forderte die ungarische Regierung auf, sich von Überlegungen zur Wiedereinführung der Todesstrafe zu distanzieren. Ministerpräsident Viktor Orban müsse «sofort klarstellen, dass das nicht seine Intention ist», sagte Juncker am Donnerstag in Brüssel. «Wenn das doch seine Absicht sein sollte, käme es zum Kampf.» So weit kommt es nun nicht: Bei einem klärenden Telefongespräch mit EU-Parlaments­präsident Martin Schulz krebste Orban gestern zurück und versicherte, dass er sich an alle Gesetze halten werde und die Todesstrafe nicht einzuführen gedenke. 

Orbans unverblümte Absicht 

Dass Orban dennoch eine Vorladung vor das Parlament in Brüssel droht, hat mit seinen Ideen zur Flüchtlingspolitik zu tun. Weil der Ungar die europäische Flüchtlingspolitik für «dumm» und viel zu weich hält, will er sich eine härtere Gangart mit verstärktem Grenzschutz und schneller Ausschaffung von Asylbewerbern durch das Volk absegnen lassen. Und zwar auf dem Weg einer «nationalen Konsultation». Alle acht Millionen wahlberechtigten Ungarn erhalten in diesen Tagen einen Bogen mit 12 Fragen zu Migration, Asylpolitik und Terrorismus. In einer kurzen Einleitung zum Fragebogen wendet sich der Ministerpräsident persönlich an die Bürger und erklärt unverblümt, welches Ergebnis er wünsche: Asylbewerber seien in Wirklichkeit Wirtschaftsflüchtlinge, die nur das Wohlfahrtssystem und die Jobangebote in Ungarn ausnützen wollten. Sie seien – ebenso wie der islamistische Terror – eine Bedrohung, gegen die Ungarn kämpfen müsse, weil sich die EU als unfähig erwiesen habe. Dann werden die Ungarn unter anderem gefragt, ob ihr Land in nächster Zeit Ziel eines Terroranschlags werden könnte und ob diese zunehmende Gefahr etwas mit dem Missmanagement der Einwanderungsfrage durch die EU zu tun haben könnte. Weiter sollen sie entscheiden, ob illegale Einwanderer in Haft genommen werden können und die Kosten für den Aufenthalt in Ungarn selbst bezahlen müssen. 

Liberale Abgeordnete im EU-Parlament halten die Fragen für manipulativ und «schrecklich»: Viktor Orban verwandle sein Land in ein Mini-Russland. In Ungarn hingegen bekommt der Regierungschef wieder Applaus von ganz rechts: Die Nationale Konsultation sei dringend notwendig gewesen, meint Jobbik. Die Massnahmen gegen Migranten würden aber nicht weit genug gehen, findet die Partei.