«Viktor Orbán ist ein grosser Zyniker»

27. Mai 2013

Der Publizist Paul Lendvai gibt der ungarischen Regierung eine Mitschuld am wachsenden Antisemitismus und Nationalismus im Land. Ministerpräsident Viktor Orbán brauche neue Sündenböcke.

Mit Paul Lendvai sprach Bernhard Odehnal in Wien

Müssen Juden in Ungarn heute Angst haben?

Angst vielleicht nicht, aber ein Unbehagen ist schon zu spüren. Es gab ja auch einige Vorfälle: Fussballfans, die im Chor «dreckige Juden» brüllen – ein Rabbi wurde auf offener Strasse niedergeschlagen. Und dann gibt es noch die Beschimpfungen von Juden, über die nicht berichtet wird.


Paul Lendvai. Foto (Copyright): Heribert Corn

Fühlen Sie sich in Budapest sicher?

Im Gegensatz zu meinem ständigen Wohnsitz Wien, fühle ich mich nicht mehr wohl in Budapest. Ich sehe, wie die Atmosphäre der Zwischenkriegszeit wiederbelebt wird. Die rechtsextreme Garde marschiert, die Buchhandlungen stellen Werke antisemitischer Schriftsteller in die Auslagen. Kritiker der Regierung werden in den rechtsgerichteten Medien als «antinationale‚ liberale, kosmopolitische» Elemente, also kodiert als Juden angegriffen.

Orbán sprach auf der Vollversammlung des Jüdischen Weltkongresses und kündigte null Toleranz gegen den Antisemitismus an.

Das klingt gut. Aber wo bleiben die Taten? Nur wenn antisemitische Vorfälle im Ausland bekannt werden, nimmt die Regierung Stellung. Gleichzeitig dürfen Freunde der Regierung, wie der Publizist Zsolt Bayer, gegen Juden und gegen die Roma hetzen. Orbán verteidigt ihn noch. In den Schulen müssen jetzt Bücher der drittklassigen Antisemiten Albert Wass, Cecile Tormay, Jozsef Nyirö gelesen werden. Denkmäler werden abmontiert, Strassen und Plätze umbenannt. Geehrt werden nur rechtsgerichtete, nationalistische und antisemitische Personen aus der Vergangenheit. Die Leute gewöhnen sich an diese Atmosphäre. Das ist besonders gefährlich.

Warum distanziert sich Orbán nicht klar? Er ist doch kein Antisemit.

Es ist irrelevant, was er denkt. Es geht darum, was er macht. Er spricht vom «ungarischen Blut» und verwendet Ausdrücke wie «fremdartig», «fremdherzig» für liberale oder linke Regierungen. Vor dem Jüdischen Weltkongress sagte Orbán, er werde das «mit uns lebende Judentum und andere Minderheiten» verteidigen. Das ist ein verräterischer Satz, der eine klare Grenze zieht: dort die Juden, hier die ungarische Nation.

Was bezweckt Orban damit?

Ungarn wird nicht wieder Judengesetze erlassen, wie in der Zwischenkriegszeit. Aber die antisemitische Grundstimmung wird indirekt gefördert. Und wenn es hart auf hart geht, gibt es einen Sündenbock. Dabei fühlten sich gerade die ungarischen Juden nie als Minderheit. Sie hielten sich immer für Ungarn.

Fördert Orbán diese Ausgrenzung der Juden aus Überzeugung?

Sicher nicht. Ich halte ihn für einen grossen Zyniker. In Wirklichkeit ist er nur an Macht und an Fussball interessiert. Alle Umfragen zeigen, dass der Antisemitismus in Ungarn stark zunimmt. Daran ist nicht nur die rechtsextreme Partei Jobbik schuld, sondern auch Orbáns Partei Fidesz.

Orbán sagte doch auch, dass Jobbik eine Gefahr für die Demokratie sei?

Er sagte es im Interview mit einer israelischen Zeitung, die in Ungarn niemand liest. Er verwendet sehr geschickt zwei Sprachen: Für das Ausland sagt er das eine – für die Ungarn das andere. Zu Hause würde er Jobbik niemals so hart beurteilen. Er kann in Ungarn auch anders reden, weil nur wenige die Geschichte kennen: Im Holocaust wurden 560 000 ungarische Juden umgebracht. Die meisten wurden nach dem deutschen Einmarsch im Sommer 1944 mithilfe der ungarischen Verwaltung in die Vernichtungslager deportiert. Das hat man niemals richtig aufgearbeitet – weder im Kommunismus noch danach. Die Menschen wissen zu wenig, deshalb ist Jobbik so stark, vor allem an den Unis.

Gerade der Jüdische Weltkongress hat mit seiner Versammlung in Budapest auf das Problem des Antisemitismus hingewiesen.

Für das Ausland vielleicht. In Ungarn wurden durch den Kongress eher Vorurteile bestätigt: «Da verurteilt uns eine Weltorganisation des Judentums», war das Empfinden. Ich glaube, dass diese Veranstaltung ein Fehler war. Sie gab der ungarischen Regierung die Möglichkeit, in ausländischen Medien zu erklären, wie viel sie gegen den Antisemitismus unternimmt. Aber in Ungarn merkt man nichts davon.

Missbraucht also Orbán die Kritik aus dem Ausland für seine Zwecke?

Alles wird ausgenützt. Kritiker werden angefeindet und diskreditiert. Ob im Ausland oder im Inland. Ich wurde als Informant des kommunistischen Geheimdienstes diffamiert. Und das von Leuten, die damals selbst Spitzel waren oder dem kommunistischen Regime dienten. Diese Regierung ist eine Meisterin im Verdrehen der Tatsachen. Sie kann das, weil sie alle Machtinstrumente in der Hand hat.

Also besser nicht kritisieren?

Es muss kritisiert werden. Man muss offen sagen, wie die Lage ist. Auch von der EU, aus Brüssel, kommt eigentlich mehr Druck, als ich erwartet habe. Das Schweigen haben wir im Osten Europas lange genug erlebt. Die EU oder die internationale Öffentlichkeit kann allerdings eine eigene kritische Elite nicht ersetzen.

Was kann die interne breite Protestbewegung ausrichten?

Die Bewegung ist nicht gut organisiert. Viele Leute sehen deshalb im Protest keine Zukunft mehr. Sie sehen die Korruption und den Nepotismus der Regierung, und dass die Schuld an Problemen immer den Ausländern, den Banken und der EU gegeben wird. Hunderttausende junge Menschen gehen ins Ausland. Oft sind es die Besten. Das ist ein grosser Verlust für Ungarn, so wie ihn Serbien unter Milosevic erlebte.

Hat die Opposition bei den Wahlen 2014 eine Chance gegen Orbán?

Die Opposition ist gespalten, die Sozialisten sind wegen des Versagens ihrer Führung in der Regierung von 2002 bis 2010 noch immer diskreditiert, und es gibt auch keine charismatischen Führungspersönlichkeiten. Orbán wird vermutlich nicht verlieren. Aber selbst wenn er abgewählt würde, hat er Schlüsselpositionen schon so übergreifend besetzt, dass er faktisch an der Macht bliebe. Es ist alles in den Händen der Regierung. Die Nationalbank war die letzte Bastion. Die ist jetzt auch gefallen.

Warum lassen sich das die Bürger gefallen?

Ungarn ist nicht Weissrussland, nicht einmal Russland. Alles geschieht raffinierter. Es gibt keine dramatische Situation, man merkt kaum die schleichende Aushöhlung der demokratischen Strukturen. Wenn die Bürger unzufrieden werden, ordnet Orbán die zehnprozentige Senkung der Energiepreise an. Einfach so, ohne die privaten Anbieter zu fragen. Er hat kein Konzept, aber er setzt seine Interessen durch. Dieser hochbegabte Machtpolitiker ist erst 50 Jahre alt, er kann noch lange so weitermachen.

Orbáns Partei Fidesz ist eine grosse Bewegung. Tragen alle in der Partei diese Politik mit?

Ganz wenige wagen Kritik, sprechen offen die Korruption an. Die werden schnell isoliert. Die Macht ist ein Aphrodisiakum, dem alle verfallen sind. Ich bin sehr pessimistisch: Orbán hat seine Macht zementiert. In anderen mitteleuropäischen Ländern kamen auch Nationalisten oder Populisten an die Macht – in der Slowakei, in Kroatien, in Slowenien. Aber sie konnten wieder abgewählt werden. Ungarn ist ein Sonderfall: Das einzige Land in der EU, in dem keine Änderung der Machtverhältnisse mehr möglich ist. Das ist die grösste Gefahr. Und das macht mich sehr traurig.