Viktor Orban schwärmt von Blut und Boden

19. Oktober 2012

Ungarns Premierminister zieht neue Register der nationalistischen Propaganda und stellt die Staatsgrenzen infrage.

Von Bernhard Odehnal, Wien

Neulich in Berlin, da klang er noch ganz nach überzeugtem Europäer. Von «grossen Herausforderungen» für den Kontinent sprach Viktor Orban in seiner Grundsatzrede über die Zukunft Europas in den Räumen der Konrad-Adenauer-Stiftung, von der Notwendigkeit eines «Demokratie-Managements» und eines «diskutierenden Europas». Zu Hause klingt das freilich ganz anders.

Wenn Orban in Ungarn über Europa und die europäischen Institutionen spricht, dann nur als Feindbild und Bedrohung. Solche Töne sind nicht neu. Doch was Orban in den vergangenen Tagen von sich gab, stellt all seine bisherigen Reden in den Schatten. Um den Anspruch auf Vorherrschaft der Ungarn in Mitteleuropa zu untermauern, bemüht er nicht nur die Leistungen seiner «Revolution an den Wahlurnen», sondern ein angeblich historisches Anrecht, das er aus der Bibel und uralten ungarischen Sagengestalten herleitet.

In einer Rede in der Gemeinde Opusztaszer Anfang Oktober definierte er die ungarische Nation als «Weltnation», da die Grenzen des Landes und der Nation nicht zusammenfallen. Es könne aber nur ein Vaterland geben, «das fähig ist, alle Ungarn diesseits und jenseits der Trianongrenze in einer einzigen Gemeinschaft zu vereinigen». Bisher wurde die Forderung, die im Vertrag von Trianon 1921 festgelegte Grenzen zu ändern und aus Ungarn ein Grossungarn zu machen, nur von der rechtsextremen Partei Jobbik offen ausgesprochen.

Politik mit einem Vogel

Orban hielt die Rede bei der Einweihung eines Denkmals für den mythischen Vogel «Turul». Das adlerähnliche Tier soll die ersten Ungarn aus Asien in die pannonische Tiefebene geführt haben. Der Turulkult blühte immer in Zeiten des Nationalismus: In der Zeit der Magyarisierung im 19. Jahrhundert, unter den faschistischen Pfeilkreuzlern im Zweiten Weltkrieg und seit der Machtübernahme Orbans 2010. In Opusztaszer erklärte der Regierungschef den Turul zum Symbol der nationalen Identität und zum Urbild der Ungarn: «Er gehört zum Blut und zum Heimatboden.»

Wenige Tage danach erklärte Orban bei der Eröffnung einer Molkerei in Südungarn, dass die «Liebe und der Respekt zur heimischen Scholle in den Genen der Ungarn liegen». Die Regierung werde deshalb den Ausverkauf des Lands an Ausländer verhindern. Im Sommer hatte das Parlament ein Gesetz beschlossen, das die Enteignung von ausländischen (hauptsächlich österreichischen und deutschen) Landbesitzern erleichtert.

Neben den ausländischen Landwirten ist der Internationale Währungsfonds (IWF) Ziel der Regierungspropaganda. Ungarn sollte Verhandlungen über eine Kreditlinie bis zu 20 Milliarden Euro führen, tut aber alles, um den IWF zu verärgern. Seit Anfang Oktober schaltet die Regierung in den Tageszeitungen Inserate, in denen sie verspricht, angeblichen Forderungen des IWF nicht nachzugeben: «Immobiliensteuer. Nein. Das erlauben wir dem IWF nicht», heisst es da etwa. Oder: «Kürzung der Familienbeihilfe. Nein. Wir werden dem IWF nicht nachgeben.» Es gibt keinen Beleg, dass IWF-Vertreter diese Forderungen jemals erhoben hätten.

Die Inserate sollen die Ungarn offenbar auch auf die nächste Grosskundgebung am 23. Oktober einstimmen. Zum Nationalfeiertag in Erinnerung an den Aufstand gegen die Kommunisten 1956 wird Orban eine Rede vor Teilnehmern eines «Friedensmarsches» halten. Auch die ausserparlamentarische Opposition ruft zu Kundgebungen auf, erstmals werden die Gewerkschaftsbewegung «Szolidaritas» und die Bürgerbewegung «Eine Million für die Pressefreiheit» gemeinsam demonstrieren.

Bei der Kundgebung der Jobbik am selben Tag wird der Chefideologe des französischen Front National, Bruno Gollnisch, sprechen. Am Mittwoch protestierten Anhänger von Jobbik und die eigentlich verbotene Ungarische Garde gegen die «Zigeunerkriminalität» in der Stadt Miskolc. Zum ersten Mal hatten Roma zu einer Gegenkundgebung aufgerufen. Sie forderten «Gerechtigkeit und ein Ungarn ohne Nazis».