Viktors wundersame Welt

8. Juni 2016

Frankenschuldner leben in einem «Wohnpark» im ungarischen Niemandsland, eine Nostalgiebahn fährt nach Nirgendwo: zu Besuch bei Viktor Orbans Prestigeprojekten. 

«Aus der Schweiz kommen Sie? Und in den Wohnpark wollen Sie?» Die Verkäuferin in der Imbissbude an der staubigen ungarischen Landstrasse blickt die Besucher ungläubig an. Als wüsste sie nicht, ob sie die Idee für besonders mutig oder wahnsinnig halten soll. Sie entscheidet sich für einen sehr knappen Rat: «An Ihrer Stelle würde ich das bleiben lassen.» 


Leere Strassen, keine Schule, kein Arzt, kein Supermarkt: Die Siedlung für die ungarischen Opfer des hohen Frankenkurses. Foto: Flavia Forrer

Der «Wohnpark» liegt gleich auf der anderen Seite der Landstrasse: kleine Häuser in Weiss mit Giebeldächern, in Reih und Glied an drei Längs- und zwei Querstrassen. Der Frühlingswind weht Sand und Erde auf, in den Vorgärten bellen Hunde. Menschen sind hier nicht zu sehen. Eigentlich gehört die Siedlung zu Ocsa, einer kleinen Gemeinde 20 Kilometer östlich der ungarischen Hauptstadt Budapest. Aber Dorf und Wohnpark sind ganze fünf Kilometer voneinander entfernt. Dazwischen liegen Wiesen, Felder und das Asphaltband einer Autobahn. 

Gemüse ernten, Hühner halten 

Etwas einsam sei es hier schon, sagt ein Mann, der sein Velo in die Siedlung schiebt, «aber dafür können wir eigenes Gemüse ernten und Hühner halten». Als vor fünf Jahren mit dem Bau begonnen wurde, galt der Wohnpark Ocsa als grösstes Sozialprojekt von Regierungschef Viktor Orban. Damals stieg der Kurs des Schweizer Frankens in ungeahnte Höhen. Hunderttausende Ungarn mit Frankenkrediten hatten plötzlich doppelt so hohe Schulden und wurden gezwungen, ihre neuen Wohnungen oder Häuser zu verlassen. 

Um einen dramatischen Anstieg der Obdachlosigkeit zu verhindern, plante die rechtskonservative Regierung eine eigene Siedlung für die Opfer des starken Frankens. Auf der grünen Wiese sollten 500 Häuser gebaut werden, dazu ein Kindergarten, eine Schule, eine Kirche, Arztpraxen und ein Supermarkt. Billige Mieten zwischen 60 und 80 Franken pro Monat sollten den Menschen ermöglichen, eine neue Existenz aufzubauen. 2,5 Milliarden Forint (9 Millionen Franken) investierte der Staat in die erste Ausbaustufe. Die zweite Stufe kam nie. Nach Fertigstellung von 80 Häusern wurde das Projekt gestoppt. Erst waren die Auswahlkriterien zu streng, dann wollten Familien aus der Stadt nicht in die Wüste ziehen, auch wenn ihnen die Kosten der Frankenkredite über den Kopf wuchsen. Also holte man Sozialfälle aus den umliegenden Dörfern, darunter viele Romafamilien. Kindergarten, Schule, Supermarkt wurden nie gebaut. Lebensmittel gibt es nur in der Imbissbude an der Landstrasse. 


«Sie wollen in der Anonymität bleiben.» Die Bewohner der Siedlung Ocsa reden nicht gerne mit Fremden. Foto: Flavia Forrer

Die Warnung der Verkäuferin stellt sich als übertrieben heraus: Niemand hasst hier die Schweizer, niemand will sie anpöbeln oder sie für ihre starke Währung zur Rechenschaft ziehen. Gesprächig sind die Menschen aber auch nicht. Sie schämten sich für ihre Armut, erklärt der Mann mit dem Velo: «Sie haben ihre alte Welt hinter sich gelassen und wollen in der Anonymität bleiben.» Seinen Namen möchte niemand preisgeben, auch der Mann mit dem Velo nicht. Er soll hier Sandor heissen. 

Drei Jobs, billige Miete 

Das Leben in der Siedlung sei nicht so schlecht, sagt Sandor. Eine Gemeinschaft aber gebe es kaum: «Jeder ist mit dem Überleben beschäftigt.» Sandor arbeitet von 2 bis 5 Uhr früh in einer Bäckerei, von 5 bis 10 Uhr bei einer Spedition und am Nachmittag als Trainer im Sportclub. Drei Jobs, billige Miete, ein Gemüsegarten und Hühner: So kann er seine Familie recht und schlecht durchbringen. Ausser ihm kümmert sich kaum jemand um den eigenen Garten. Hinter vielen Häusern liegen Baumaterialien oder Autowracks. Ein Zettel informiert die Bewohner, dass ihre Siedlung mit-ten im Jagdgebiet liege: «Morgens und abends können Schüsse fallen.» 

Im Jahr 2013, als die ersten Häuser des «Wohnparks» fertiggestellt wurden, hatten 674 000 Ungarn einen Fremdwährungskredit mit einer Hypothek auf Wohnung oder Haus. 115 000 von ihnen waren nicht mehr in der Lage, Rückzahlungen zu leisten. Zwei Jahre danach erzwang die Budapester Regierung per Gesetz die Umwandlung aller Fremdwährungskredite in Forint. Zu einem Kurs, der Kreditnehmer ent- und Banken belastete. Zudem kaufte die staatliche Immobilienagentur fast 20 000 Wohnungen, damit die Bewohner dort bleiben. Siedlungen wie Ocsa werden nicht mehr gebaut. 

Von anderen Armensiedlungen in Ungarn unterscheidet sich der Wohnpark für die Opfer des starken Frankens vor allem durch seine isolierte Lage. Und dass die Bewohner vom Staat zur Sparsamkeit gezwungen werden: Damit sie sich nicht wieder verschulden, müssen die Bewohner Strom und Gasflaschen für den Herd im Voraus bezahlen. Wer kein Geld hat, bekommt auch kein Licht. Wütend sind die Menschen im Wohnpark Ocsa deswegen nicht: Sie haben resigniert. Gutes könne sie über die Siedlung nicht sagen, «Schlechtes will ich nicht sagen», meint eine junge Frau und schliesst die Haustür. 

«Aus der Schweiz kommen Sie? Und mitfahren wollen Sie?» Die Kondukteurin im tannengrünen Waggon blickt die Besucher ungläubig an. Dann bittet sie einzusteigen. Der Zug setzt sich in Bewegung. Für die sechs Kilometer lange Strecke benötigt die Lokomotive mit ihrem einzigen Wagen 40 Minuten, nach der ersten Hälfte der Fahrt wird eine 20-minütige Pause im einzigen Bahnhof mit Buffet eingelegt. 

Die einzigen Attraktionen 

Auch die «Kleinbahn im Valtal» ist ein Prestigeprojekt Viktor Orbans. Schweizer Franken sind hier kein Thema. Die Schmalspurbahn wurde mit 2 Millionen Euro aus Brüssel finanziert. Als Touristenattraktion verkauften die Ungarn ihre Bahn den Eurokraten, mit bis zu 7000 Fahrgästen. Pro Tag.


Zwei Millionen Euro kamen von der EU: Die Nostalgiebahn in Felcsut vor dem renovierten Bahnhofsgebäude. Foto: B. Odehnal

Am 1. Mai nahm die Nostalgiebahn den Betrieb auf. Bis Ende Mai wurden 1800 Billette verkauft. Insgesamt. Dennoch verkehren weiterhin sechs Züge täglich, mit zwei Lokführern und zwei Kondukteurinnen. Ausser ihnen fährt kaum jemand im einzigen Waggon. Kein Wunder: Die Bahn führt nirgendwo hin und macht noch dazu einen grossen Bogen um die einzigen Attraktionen von Felcsut: das riesige Fussballstadion und das Elternhaus von Viktor Orban. 

Ungarns Ministerpräsident wuchs in Felcsut auf, kickte hier zum ersten Mal einen Ball. Jetzt will er das verschlafene Dorf 30 Kilometer westlich von Budapest zum Zentrum des ungarischen Fussballs und des ungarischen Tourismus machen. Erst liess er hier eine Fussballakademie errichten, dann die «Pancho-Arena», benannt nach dem Spitznamen des ungarischen Fussballgotts Ferenc Puskas. 

Auch Sepp Blatter hat die Akademie in Felcsut besucht. Das Stadion in der «organischen Architektur» des Stararchitekten Imre Makovecz hat doppelt so viele Sitzplätze wie der Ort Einwohner: 3500. Und nun verkehrt auch noch ein Nostalgiezug auf dem Trassee einer in den 1970er-Jahren stillgelegten Regionalbahn.


Die einzigen Attraktionen im Ort: Viktor Orbans Landhaus im Schatten des riesigen Fussballstadions. Foto: B. Odehnal

Stadion, Akademie und Bahn gehören einer Stiftung, die von Orban und Vertrauten gesteuert wird. Finanziert worden sei alles von privater Hand, behauptet der Regierungschef. Allerdings können Unternehmen ihre Spenden an die Stiftung von der Steuer absetzen. Zudem können die Spender mit lukrativen Staatsaufträgen rechnen. Die Liste der Sponsoren reicht von der österreichischen Strabag über die Schweizer Stadler Rail bis zur örtlichen Firma Meszaros & Meszaros. 

Der Aufstieg von Lörinc Meszaros ist eines der grössten Wunder in Orbans Wunderwelt. Meszaros, ein einfacher Installateur, wurde innerhalb weniger Jahre Bürgermeister, Grossunternehmer, Grossgrund- und Schlossbesitzer. Heute ist Meszaros einer der reichsten Ungarn. Die Opposition vermutet, dass der ehemalige Handwerker ein Strohmann sei. Er selbst sagte einmal, dass er seine Karriere «Gott, Glück und Viktor Orban» verdanke. Heute redet er nicht mehr mit der ausländischen Presse. 


Ein Waggon, zwei Kondukteurinnen, zwei Lokführer, keine Fahrgäste: Die Nostalgiebahn in der Endstation Alcsutdobozi Arboretum. Foto. B. Odehnal 

So tuckert der menschenleere Nostalgiezug langsam durch ein Märchen der Brüder Grimm. Wem gehört das schöne Dorf? Wem gehören diese saftig-grünen Wiesen? Sie gehören aber nicht dem König Drosselbart, sondern Bürgermeister Meszaros. Ihm gehören auch das Bahnhofbuffet, der Baumarkt neben dem Bahnhof und das Hotel mit Restaurant an der Endstation im Wald. 

«Was machen wir jetzt?» 

Vergangene Woche verzeigte ein Abgeordneter der grünen Oppositionspartei LMP das Projekt Nostalgiebahn bei der EU-Betrugsbekämpfungsstelle Olaf. Viktor Orban will noch mehr Geld in sein Lieblingsprojekt investieren und die Strecke verlängern. Die Kritik sei unfair, findet auch die Kondukteurin. Dann beschwert sie sich beim Lokführer, dass der Zug zu früh angekommen sei: «Warum bist du so schnell gefahren? Was machen wir jetzt mit der vielen Zeit?»