Weichen stellen in die Vergangenheit

6. November 2012

Auf der Budapester Kindereisenbahn lebt noch ein Stück kommunistischer Kultur.

«Egy, kettö – eins, zwei, eins, zwei». Zur hellen Stimme einer 17-jährigen Kommandantin marschiert die Kindergruppe im Gleichschritt auf den Bahnhof zu. Die Blicke sind geradeaus gerichtet, die Uniformen streng nach Vorschrift: blaue Jacken, blaue Krawatten und weisse Hemden bei den Jungen, blaue Röcke, gelbe Halstücher, weisse Strümpfe bei den Mädchen. Alle tragen blaue Schiffchen mit dem Emblem der ungarischen Staatseisenbahnen auf dem Kopf. «Eins, zwei, eins, zwei», so geht es die Treppen hinauf zum Bahnsteig. Dort muss die kleine Truppe Aufstellung nehmen und wird nach gemeinsam gebrülltem «Guten Morgen» mit Saft, Sandwich und Keksen versorgt.


Kindereisenbahn Budapest

9 Uhr in Budapest: In Hüvösvölgy am westlichen Stadtrand tritt eine Brigade der Kindereisenbahn ihren Dienst an. Den ganzen Tag werden sie an der 12 Kilometer langen Strecke hinauf auf den Szechenyi-Hügel Dienst versehen, werden wie erwachsene Bähnler Billette verkaufen und kontrollieren, Züge abfertigen, Weichen und Signale stellen (nur die Lokomotiven werden von Erwachsenen gefahren). Und sie werden dabei, anders als die Erwachsenen auf der grossen Eisenbahn, auch strammstehen und militärisch salutieren. Seit dem Wahlsieg 2010 rühmt sich Viktor Orbans nationalkonservative Regierung, sie habe Ungarn endgültig aus den Klauen der Kommunisten befreit. Aber in der Hauptstadt hält sich hartnäckig ein Stück kommunistischer Alltagskultur. Es wird sogar immer populärer, gerade bei den Jungen, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs geboren wurden. Unten, in der Budapester Innenstadt, werden Strassen umbenannt und Denkmäler entfernt, die irgendwie in Zusammenhang mit der realsozialistischen Vergangenheit gebracht werden könnten. Die Statuen von Lenin, Engels und Marx fristen ohnehin seit 20 Jahren ihr Gnadenbrot in einem eigenen «Skulpturenpark». Oben aber, in den Hügeln der Stadt, dürfen die alten Bräuche weiterleben. Keine Regierung würde es wagen, sich an der Kindereisenbahn zu vergreifen. Pioniereisenbahnen sind eine Erfindung kommunistischer Regimes, um staatlich geregelte Freizeitgestaltung mit technischmilitärischer Ausbildung zu kombinieren. Die Budapester Pioniereisenbahn (Üttörövasut) entstand Ende der 40er-Jahre und sollte nach sowjetischem Vorbild die Jugend mit sozialistischen Errungenschaften wie Diesellokomotiven und schnittigen Triebzügen bekannt machen. Die Wende machte aus der Pionier- eine «Kindereisenbahn», die Riten und Uniformen blieben gleich. Noch immer wird mit der rechten Hand schräg vor dem Gesicht salutiert, wie es bei den Pionieren üblich war. Selbst die Reliefs auf den Bahnhofsmauern mit rotbackigen Pionieren unter rotem Stern sind noch erhalten.

An die 300 Kinder zwischen 10 und 14 Jahren bewerben sich jedes Jahr für den Dienst in Uniform, 60 werden genommen. Sie bekommen an ihren Diensttagen schulfrei und zum Abschluss ein Zertifikat. Mit viel Ernst und Ehrgeiz gehen sie zur Sache: Das Personal auf der Kindereisenbahn ist freundlicher, die Bahnhöfe sind deutlich sauberer als bei der grossen Eisenbahn. Auf kaum einer Strecke in Ungarn fahren die Züge so häufig, so pünktlich und sind so stark frequentiert wie auf der Kindereisenbahn.

«Eins, zwei, eins, zwei», marschieren die Kinderbähnler nach einem langen Arbeitstag. Einmal noch stehen sie stramm und salutieren. Dann ist Dienstschluss. Es sei schön, dass Traditionen erhalten würden, sagt Fahrdienstleiterin Kinga (12), deren Mutter schon Pionierin bei der Eisenbahn war. Traurig macht sie nur, dass sie mit 14 die Bahn verlassen muss. Die nächsten Generationen warten schon auf ihren Platz in der Fahrdienstleitung. Vielleicht dürfe sie wenigstens Jacke, Schiffchen und das gelbe Halstuch mit heimnehmen, hofft Kinga. Die Uniform würde sie sorgsam pflegen und irgendwann an ihre eigene Tochter weitergeben. Wenn die mit 10 Jahren den Dienst bei der Budapester Kindereisenbahn antritt.