Wenn Roma als Küchenschaben gelten

25. September 2009

Der Rassismus gegen Roma steigt in Tschechien, der Slowakei, Rumänien und Ungarn dramatisch an. Neonazis werfen Brandsätze und morden, der Mittelstand applaudiert. Sind alle Versuche der Integration gescheitert?

Von Bernhard Odehnal, Prag

Diese Bilder schockierten eine Nation: Vermummte Jugendliche schmeissen Steine, Flaschen und Feuerwerkskörper, zünden Müllcontainer und Autos an, errichten Barrikaden. Ihnen gegenüber Polizisten in schwarzen Kampfanzügen, die Schlagstöcke, Wasserwerfer und Tränengas einsetzen. Die tschechische Presse schreibt danach von «bürgerkriegsartigen Zuständen»: Am 17. November 2008 marschieren rund 800 tschechische Neonazis vom Hauptplatz der nordböhmischen Industriestadt Litvinov in das am Stadtrand gelegene Ghetto Janov, um dort für «Ordnung» zu sorgen. Dass sie Gewalt anwenden wollen, legen sie schon im Motto ihres Aufmarsches fest: «Schluss mit den Samthandschuhen».

Obwohl die Polizei nach mehrstündiger Strassenschlacht die Neonazis aus Janov vertreiben kann, feiern die Organisatoren der bis dahin unbedeutenden rechtsextremen «Arbeiterpartei» (Delnicka strana, kurz: DS) den Sieg. Der Marsch in das Ghetto der Roma sei wie eine zweite Geburt der Partei gewesen, sagt der DS-Vorsitzende Tomas Vandas dem TA: «Heute weiss jeder, wer wir sind und wofür wir stehen.» Nach einer betont romafeindlichen Kampagne erhält die DS bei den EU-Wahlen im Juni 2009 in manchen Wahlkreisen bis zu fünf Prozent der Wählerstimmen.

Wie der Ku-Klux-Klan

Der Angriff auf die Roma von Litvinov steht am Beginn einer Gewaltserie gegen die Minderheit in ganz Osteuropa, die bis heute nicht abreisst. Im Frühjahr werden in der nordmährischen Gemeinde Vitkov ein Ehepaar und dessen Tochter bei einem Brandanschlag schwer verletzt, die Haut des zweijährigen Mädchens verbrennt zu 80 Prozent. In der Slowakei marschieren die Anhänger der rechtsextremen Gruppe «Slowakische Gemeinsamkeit» seit Anfang August jedes Wochenende durch ein Roma-Quartier. Starke Polizeiaufgebote verhindern Übergriffe, aber viele verängstigte Roma flüchten vor den Rechtsextremen in die Wälder. In der rumänischen Provinz Harghita (Siebenbürgen) greifen im Mai Hunderte Angehörige der ungarischen Volksgruppe eine Roma-Siedlung an und brennen mehrere Häuser nieder. In Ungarn sterben bei über 50 rassistisch motivierten Attentaten neun Roma.

Die Überfälle erinnern an Methoden des Ku-Klux-Klans: Häuser werden angezündet und die aus den Flammen flüchtenden Menschen kaltblütig exekutiert. Die mutmasslichen Täter der ungarischen Morde und des tschechischen Brandanschlags sitzen seit August in Untersuchungshaft. In beiden Ländern kommen die Verdächtigen aus der Neonazi-Szene, die Polizei spricht von «rassistischen Motiven».

In der rechtsextremen Propaganda hat der Antiziganismus den Antisemitismus abgelöst: Galten «Zigeuner» früher als faul, aber harmlos und lebensfroh, werden sie heute als aggressiv und parasitär dargestellt. Auf ungarischen Flugblättern sind Roma als Küchenschaben gezeichnet, in Tschechien wirbt die Arbeiterpartei mit dem Slogan «Deratizace» (Schädlingsvertilgung). Die der DS ideologisch verwandte Nationalpartei kündigte im EU-Wahlkampf die «Endlösung für Zigeuner» an.

Die Gesetze sind wirkungslos

Seit Beginn der Wirtschaftskrise hat die Roma-Feindlichkeit in Osteuropa die liberale Mittelschicht erfasst. Auf «asoziale Zigeuner» zu schimpfen, gehört auch unter Bürgern mit besserer Ausbildung und höherem Lohn zum guten Ton. Wenn in Ungarn, der Slowakei oder Tschechien die jungen Neonazis in ihren schwarzen Uniformen vor den Roma-Ghettos aufmarschieren, versammelt sich die «weisse» Dorfbevölkerung und spendet kräftigen Applaus. Auch bei der Strassenschlacht im tschechischen Litvinov gelten die Bravorufe der Zuschauer nicht der Polizei, sondern den rechtsextremen Krawallbrüdern.

Alle Länder Osteuropas haben auf Drängen der EU in den vergangenen Jahren Gesetze beschlossen, die rassistische Aussagen und Taten streng bestrafen. Doch sie scheinen ebenso wenig zu greifen wie die Programme zur Integrationder Roma. 20 Jahre nach der Wende und 5 Jahre nach der EU-Erweiterung sind sich Mehrheitsbevölkerung und Roma-Minderheit kaum näher gekommen. Die Wirtschaftskrise hat viele Versuche der Integration zunichtegemacht. Die Roma sehen sich an den Rand gedrängt und aus der Gesellschaft ausgeschlossen, die «Weissen» hingegen von kriminellen Roma bedroht und vom Staat nicht mehr geschützt.

Laut Umfrage des Prager Meinungsforschungsinstituts Stem würden nur 12 Prozent der Tschechen einen Rom als Nachbarn akzeptieren. «Besonders im letzten Jahr hat der Rassismus deutlich zugenommen», sagt Ivan Vesely, Leiter der Roma-Organisation Dzeno in Prag. Vesely kritisiert die Politiker aller regierenden Parteien: Sie würden die steigende Romafeindlichkeit ignorieren. Nach den Morden in Ungarn setzten weder die sozialistische Regierung noch der liberale Staatspräsident Zeichen der Solidarität. Robert Kushen, Direktor des Budapester European Roma Right Center, wundert sich aber auch über die Passivität der Roma angesichts der rechtsextremen Gewalt. «Warum gehen nicht 50 000 Roma auf die Strasse und fordern mehr Schutz vom Staat?»

Zwischen 8 und 12 Millionen Roma leben in der EU, der Grossteil davon in Bulgarien, Rumänien, Ungarn, der Slowakei und Tschechien, meistens in Ghettos am Rande von Dörfern und Städten. Es gibt Konferenzen und Analysen über die Lage der Roma, es gibt viele Pläne, wie sie verbessert werden könnte. Es gibt auch Geld dafür: Der aus Ungarn stammende Multimilliardär George Soros rief 2005 das «Jahrzehnt der Roma-Beteiligung» aus. In einer pompösen Zeremonie in der bulgarischen Hauptstadt Sofia verpflichteten sich die Regierungschefs Osteuropas, die Lage der Roma zu verbessern. Die Projekte laufen zwar, doch das Interesse der Regierungen hält sich seither in Grenzen. Die Europäische Union investierte in den vergangenen Jahren fast 200 Millionen Franken in Projekte zur Integration der Roma. Doch der Erfolg ist nicht messbar. Ein EU-Bericht zur Lage der Roma aus dem Jahr 2004 kritisiert, dass die Überwachung und Bewertung von Programmen gegen Roma-Diskriminierung unmöglich sei, weil «es fast vollständig an zuverlässigen Roma-spezifischen statistischen Daten fehlt».

Das Problem der fehlenden Daten ist bis heute nicht gelöst: Während Brüssel mehr über die grösste ethnische Minderheit der EU wissen will, verhindern die Antidiskriminierungsgesetze der Mitgliedsstaaten alle Erhebungen nach ethnischen Kriterien. Mangelnde Kompetenz im Umgang mit Fördergeldern müssen sich aber auch die Beamten in Brüssel vorwerfen lassen. Manche Projekte sind gut gemeint, richten aber grossen Schaden an. In der ostslowakischen Stadt Presov förderte die EU die Umsiedlung von Roma-Familien aus baufälligen Häusern im Zentrum in einen neu gebauten Wohnblock am Stadtrand. Weil der Block aber völlig isoliert blieb undbegleitende Massnahmen fehlten, wurde daraus innert kurzer Zeit einer der schlimmsten Slums in der Slowakei. Robert Kushen sieht darin die grösste Schwäche der Roma-Politik in Europa: Mit isolierten Programmen, ohne gemeinsames Ziel, schaffe man nur neue Ghettos.

Bildungsmisere und Arbeitslosigkeit

Dass der Weg zu besseren Lebensverhältnissen für Roma über die Bildung führt, wird auf jeder Konferenz, in jeder Studie betont. Doch in seinem jüngsten Regierungsbericht vom Juli 2009 muss der tschechische Minister für Menschenrechte, Michal Kocab, feststellen, dass noch immer 30 Prozent der Roma-Kinder in Sonderschulen landen. 2007 gab der Europäische Gerichtshof in Strassburg einer Gruppe von Roma aus Ostrava Recht, die gegen ihre zwangsweise Unterbringung in Sonderschulen geklagt hatten. Seither hat sich aber nicht viel verändert.

In Ungarn verbietet das Antidiskriminierungsgesetz seit 2003, Roma-Kinder in eigene, schlechtere Schulen zu schicken. Dennoch landen heute 40 Prozent in Ghetto-Klassen und 20 Prozent in Sonderschulen, sagte die Roma-Abgeordnete im EU-Parlament, Viktoria Mohacsi, in einemRadiointerview. Ergebnis dieser Bildungspolitik: Nur 5 Prozent der ungarischen Roma haben die Matura, nur 1 Prozentbesucht die Universität. Aber «was nützen schon Hochschulabschlüsse, wenn unsere Jugendlichen keine Arbeit bekommen?», fragt Ivan Vesely. Tschechen mit dunkler Haut hätten nach wie vor keine Chance auf dem Arbeitsmarkt, behauptet der Leiter der Prager Roma-Organisation Dzeno: «Deshalb fragen uns die Kids: Warum sollen wir überhaupt noch lernen?»

Während des Wirtschaftsbooms hätten Hürden auf dem Arbeitsmarkt schneller abgebaut werden können. Die Krise aber trifft besonders jene Wirtschaftszweige, in denen Roma als ungelernte Arbeiter tätig waren: Schwerindustrie, Baubranche. Das Ghetto Janov am Rande der Stadt Litvinov ist ein typisches Beispiel: Auf einem Hügel oberhalb der riesigen Kohlegruben Nordböhmens entstanden in den 1970er-Jahren zwölfstöckige Plattenbauten für 3000 Menschen, die in den nahen Kraftwerken oder einer chemischen Fabrik arbeiteten. Doch seit der Wende bauen die Fabriken immer mehr Arbeitsplätze ab, Facharbeiter ziehen in wirtschaftsstärkere Regionen weiter, Roma-Familien aus den ärmsten Gebieten Tschechiens und aus der Slowakei in die leeren Wohnungen ein.

Steigende Kriminalität

Heute hat kaum noch jemand Arbeit in Janov. Vor den Hauseingängen lungern junge Männer gelangweilt in der Vormittagssonne, aus offenen Fenstern schallt laute Musik. Unten in der Stadt klagen die Bewohner über die steigende Kriminalität: Junge Roma würden älteren Frauen vor dem Supermarkt auflauern und sie ausrauben. Jeder in Litvinov gibt die Schuld «den anderen». Die Stadtverwaltung habe der Entwicklung jahrelang untätig zugesehen, klagt ein Pensionist, «bis aus Janov ein Ghetto wurde». Ivan Vesely weiss von 300 Ghettos in ähnlichem oder schlimmerem Zustand in Tschechien. Zu viele Menschen hätten Interesse, dass sich an diesem Zustand nichts ändere, sagt Vesely: Lokalpolitiker und Rechtsextreme ebenso wie kriminelle Roma-Clans.

Janov ist aber auch ein Beispiel, wie ein wenig Initiative einer Lokalverwaltung die Verhältnisse schnell ändern kann. Nach den Provokationen und Ausschreitungen der Rechtsextremen wurde der Bürgermeister von Litvinov abgesetzt, und sein Nachfolger begann, sich ernsthaft für das Ghetto am Stadtrand zu interessieren. Stolz zählt Daniel Volak die Massnahmen der vergangenen Monate auf: Ein Polizeiwagen patrouilliert jetzt Tag und Nacht im Quartier und nimmt sofort Anzeigen auf. Die Müllabfuhr kommt jeden zweiten Tag und nicht mehr bloss jede zweite Woche. Ein Linienbus fährt durchs Quartier, die Glasscheiben der Haltestellen werden repariert, die Gemeinde bezahlt Bewohner von Janov, damit sie die Strassen wischen. Das alles löst zwar nicht das Problem der Arbeitslosigkeit, aber es hat dem Quartier doch wieder etwas Ruhe und Ordnung gebracht. «Wenn die Strassen sauber sind, leeren die Leute zumindest nicht mehr ihren Müll aus dem Fenster», sagt Volak.

Bürgermeister Volak muss zugeben: «Ohne die Strassenschlacht vom vergangenen November wäre hier gar nichts passiert».