«Wir fühlen uns betrogen»

9. Mai 2014

Mustafa Dschemilew, der Führer der Krimtataren, klagt über Repressionen.

Mustafa Dschemilew ist ein Verbannter im eigenen Land. Im grössten Teil der Ukraine kann er sich zwar frei bewegen, aber in sein eigenes Haus in seiner Heimatstadt auf der Krim darf er nicht zurück. Am 19. April fuhr der ältere Herr von der Tatarenstadt Bachtschissarai in die Hauptstadt Kiew. Als er am 2. Mai wieder zurück wollte, verweigerten ihm selbst ernannte Grenzwächter auf der von Russland annektierten Halbinsel die Einreise. Auch sein Versuch, via Moskau mit dem Flugzeug auf die Krim zu gelangen, misslang. Offiziell beteuert die russische Regierung, kein Einreiseverbot gegen Dschemilew erlassen zu haben. Doch auf dem Moskauer Flughafen wurde er sofort zurückgeschickt.


Mustafa Dschemilew vor der OSZE in Wien. Foto: B. Odehnal

Moralisches Gewicht

Wie eine Bedrohung sieht Dschemilew nicht aus. Der 69-Jährige ist etwa 1,60 Meter gross, schmächtig, hat schüttere graue Haare und wirkt schüchtern. Doch in seiner Heimat ist er eine unumstrittene Autorität. Er ist Abgeordneter des ukrainischen Parlaments und war viele Jahre lang Vorsitzender der Nationalversammlung der Krimtataren. Dass er in der Sowjetzeit als Dissident im Gefängnis sass und danach mehrere Menschenrechtspreise erhielt, gibt ihm moralisches Gewicht. Bei seinem Versuch der Rückreise kamen an die 4000 Menschen an die neue Grenze zwischen der Krim und dem Festland, um ihn zu begrüssen. Die prorussischen Grenzwächter zogen ihre Waffen, «wir waren kurz vor einem Blutbad», sagte Dschemilew gestern in Wien. Nur sein freiwilliger Rückzug habe ein Massaker verhindert.

Heute lebt Dschemilew in Kiew. Nach Wien kommt er auf Einladung der Ukraine und Litauens, um vor den Botschaftern der OSZE zu sprechen. Repressionen gegen die Minderheit seien alltäglich geworden, sagt Dschemilew: Wer heute in der Schule oder auf der Strasse Tatarisch spreche, riskiere es, verprügelt zu werden. Erst vor zwei Tagen sei ein Abgeordneter des Tatarenparlaments, der Mejlis, zusammengeschlagen worden. Es gebe Gerüchte, dass die politische Vertretung der Tataren aufgelöst werde. Ausserdem habe der Staatsanwalt der Krim Ermittlungen gegen Abgeordnete aufgenommen, die Dschemilew bei seiner misslungenen Einreise begrüsst hätten. Der Vorwurf: illegaler Grenzübertritt. Das kann mit mehren Jahren Haft bestraft werden.

Dschemilew verlangt in Wien von der OSZE zumindest ein klares Bekenntnis zu den eigenen Verträgen: Im Budapester Memorandum von 1994 habe die Ukraine auf Atomwaffen verzichtet und im Gegenzug die Garantie der territorialen Integrität erhalten. «Heute fühlen wir uns betrogen», sagt Dschemilew gegenüber dem TA, «viele Ukrainer meinen jetzt, es wäre besser für uns, wenn wir noch Atomraketen hätten.»

Krimtataren werden Ausländer

Als grösstes Problem auf der Krim sieht Dschemilew die Frage der Staatsbürgerschaft. Bis Ende April mussten sich die Bürger der Krim als Staatsbürger der Russischen Föderation registrieren lassen. Taten sie das nicht, gelten sie künftig als Ausländer. Von den 280 000 Krimtataren wollten nur die wenigsten zur russischen Staatsbürgerschaft wechseln. Theoretisch dürfen sie nun höchstens 90 Tage in ihren eigenen Häusern bleiben, müssten dann ausreisen und wieder als Touristen einreisen. Ob und wie das Gesetz tatsächlich von der russischen Verwaltung der Krim exekutiert wird, ist nicht klar.

Vor 70 Jahren wurden die Krimtataren von Stalin innert dreier Tage nach Zentralasien deportiert. Zehntausende starben während des Transports in Güterzügen. Am 18. Mai wollen die Tataren in der Krim-Hauptstadt Simferopol dieser Deportation gedenken. Dass die neuen Herrscher die Kundgebung zulassen, ist unwahrscheinlich. Mustafa Dschemilew will sich tags zuvor dennoch in Kiew ins Auto setzen und wieder einmal versuchen, seine Heimat über den Landweg zu erreichen.