Zum Wackelsteinerweichen

24. Oktober 2012

Niederösterreichs Bauern sprengen die natürlichen Sehenswürdigkeiten des Landes.

Sie stehen schon ziemlich lange in der Gegend rum. Millionen von Jahren. Einfach so. Es gibt Besucher, die kommen extra wegen der Wackelsteine ins nördliche Waldviertel, dieses raue Hochplateau an der Grenze von Österreich und Tschechien, zwei Zugstunden von Wien entfernt.

Schriftsteller kaufen hier halb verfallene Bauernhäuser zwischen den bizarren Findlingen, weil sie sich dort jene Ruhe erhoffen, die sie dringend für das Verfassen ihres neuen Meisterwerks brauchen. Esoteriker und Yogalehrer pilgern zu den Steinen, weil sie sich im Schatten der tonnenschweren Monolithen besonders eins mit dem Kosmos fühlen. Wackelsteine nämlich sind durch Ablagerung oder Verwitterung entstandene Phänomene, die Felsblöcke leicht beweglich auf ihrer Unterlage balancieren lassen.

Tourismusmanager glauben, mit den Steinen die einzige Unique Selling Proposition des Waldviertels gefunden zu haben, und locken die Städter zu Exkursionen mit Wünschelrute und Versammlungen an «geheimnisvolle Kraftplätze». Man könnte das auch als Akt der Verzweiflung sehen, denn viel mehr USP als wackelnde Steine hat das Waldviertel nicht zu bieten. Ausser einer autochthonen Bevölkerung, die es an Emotionalität und Beredsamkeit locker mit den Kartäusern aufnehmen könnte. Vier Wörter pro Stunde gelten im Waldviertel als kommunikative Höchstleistung, ein trockenes «Passt scho» ist Ausdruck überbordender Geselligkeit.

Ausgerechnet die schweigsamen Eingeborenen aber haben deutlich gemacht, dass sie die einzigartigen Steine aus dem Weg räumen wollen. Die stören nämlich die Bauern bei ihrer täglichen Arbeit. Sie können in ihren vollklimatisierten Massey-Fergusons nämlich nicht die Direttissima von der Scheune auf das Feld nehmen. Sie müssen bremsen. Bremsen! Und langsam durch die Kurven fahren. Auch wenn solche Umwege durch Ausgleichszahlungen der EU erleichtert werden - für den Waldviertler Landwirt sind Wackelsteine eine einzige Quelle täglicher Demütigungen.

Also müssen die Steine weg! Vor ein paar Jahrzehnten war das noch legal möglich. Da konnten sie gesprengt, zerkleinert und entsorgt werden. Hunderte Wackelsteine verschwanden so aus der Landschaft. Dummerweise schreibt aber jetzt ein Naturschutzgesetz die Erhaltung der Landschaft vor.

Aber die Bauern sprengen weiterhin, nur halt nicht mehr mit dem Segen der Behörden. Die drohe jetzt mit Anzeigen und sogar, als letzte Konsequenz, mit dem Entzug von EU-Förderungen, meldet die Website des Staatsfernsehens ORF.

Ob das die Felsensprenger aufhalten kann, ist fraglich. Ist aber erst einmal der letzte Wackelstein im Nordosten Österreichs zu Schotter zermahlen, was bleibt dem Waldviertel dann noch? Die Region mit der geringsten Geburten- und der grössten Abwanderungsrate, eine Stadt mit dem Kälterekord Österreichs (minus 36,6 Grad, gemessen im Winter 1929), ein Dorf mit der teuersten Ortsumfahrung des Landes. Sicher, das sind beeindruckende Rekorde, aber in der Tourismuswerbung vielleicht nicht optimal zu verkaufen.Wieder einmal bietet sich die Politik als Retterin an. Im März wählt Niederösterreich (wobei man sich «Wahlen» hier ähnlich demokratisch wie in Weissrussland oder Nordkorea vorstellen muss). Das Gesicht des bisherigen und zukünftigen Landesvaters grinst zwar schon von den Fotos in allen Schulen, Bezirksämtern, in den Lokalzeitungen und im Lokalfernsehen. Aber eines fehlt ihm noch: sein Gesicht in Stein gemeisselt. Mount Rushmore in Niederösterreich. Statt vier US-Präsidenten ein Landeshauptmann, für immer verewigt im letzten Waldviertler Wackelstein. Natürlich: Wackeln dürfte dieser Stein in seiner neuen Funktion nicht mehr, so etwas würde sich nicht ziemen. Aber auch das wäre in Niederösterreich kein Problem: Ein Wort des Landesfürsten - und die Steine rühren sich nicht mehr von der Stelle.