Auf der Wiese gestrandet

26. August 2015

Im österreichischen Flüchtlingslager Traiskirchen müssen Asylbewerber unter menschenunwürdigen Bedingungen leben. Verwaltet wird das Lager von der Schweizer Firma ORS, die jetzt unter scharfer Kritik steht.  

Dass Amnesty International (AI) die Menschenrechtslage in Flüchtlingslagern überprüft, kommt öfters vor – in Spanien, in Griechenland, in afrikanischen Ländern. Für Österreich war es eine Premiere, als AI-Mitarbeiter Anfang August die Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in der kleinen Gemeinde Traiskirchen, 30 Kilometer südlich von Wien, besuchten. Der Auftrag kam aus der Zentrale in London, wo man Meldungen über Tausende Asylwerber ohne einen Schlafplatz nicht glauben wollte. 

Doch der Bericht der Mission Trais­kirchen ist eindeutig: Jugendliche, Frauen und ganze Familien obdachlos, Zugang zu sanitären Einrichtungen limitiert, Versorgung mit Nahrungsmitteln problematisch, Gesundheitsversorgung unzureichend, die Lage «unmenschlich und menschenunwürdig». Auch Bundeskanzler Werner Faymann bezeichnete die Zustände als «nicht tragbar». 

Das Asylwesen gehört in Österreich zum Dossier von Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP). Für die Verwaltung der Flüchtlingszentren und die Betreuung der Flüchtlinge ist die österreichische ORS GmbH zuständig, eine Tochter der Schweizer ORS AG. ORS will die Vorwürfe von Amnesty in einer kurzfristig anberaumten Untersuchung überprüfen und Verbesserungen sofort umsetzen, wo möglich. «Aber in einer so enormen Ausnahmesituation stossen wir an die Grenzen des Machbaren», sagt der Schweizer ORS-Direktor Stefan Moll-Thissen dem TA: «Das ist eine enorme Herausforderung für uns alle.» 

Welle der Hilfsbereitschaft 

Traiskirchen ist für 1750 Personen zu­gelassen, im Juli waren zeitweise jedoch 4500 Personen untergebracht. Bis zu 1500 Asylbewerber mussten auf der Wiese übernachten, auch schwangere Frauen und kleine Kinder. In Regen­nächten stellte die Lagerleitung alte Postbusse als Unterschlupf zur Verfügung. Die Überbelegung ist seither leicht zurück­gegangen, gestern befanden sich 3400 Menschen auf dem Gelände der ­alten Kaserne. Noch immer schlafen Hunderte auf der Wiese, mittlerweile in kleinen Zelten, die von Privatpersonen gespendet wurden. 

Medienberichte über katastrophale Zustände haben eine Welle der Hilfs­bereitschaft ausgelöst. Viele Österreicher bringen Kleidung, Decken, Zelte und ­Essen zum Lager. Hinein dürfen sie nicht. ORS hat zwar beim Eingang eine Annahmestelle, die aber nicht klar erkennbar ist. Viele private Helfer werfen deshalb Spenden über den Lagerzaun oder drücken sie Flüchtlingen ausserhalb des Lagers in die Hände. Selbst grosse Hilfsorganisationen wie die katholische Caritas oder das Hilfswerk der evangelischen Diakonie können nur vor dem Lager Sachspenden annehmen und verteilen. 

Im Lager fehle es an Decken und ­Matratzen für die Obdachlosen, erfährt der TA von Bewohnern. Es gebe kein Schreibmaterial, keine Bleistifte, keine Hefte, keine Bücher und auf den Toi­letten kein Klopapier. Vor dem Lager aber kann die Caritas keine Sachspenden mehr annehmen, weil der Stauraum fehlt. «ORS und Innenministerium machen es unmöglich, dass die Zivilgesellschaft effizient helfen kann», sagt der Flüchtlingshelfer Jürgen Bischof. «Es gibt für alle die Möglichkeit, Spenden bei ORS abzugeben», widerspricht ein Sprecher des Innenministeriums. Im AI-Bericht heisst es dazu, das Hilfsangebot eines Zusammenschlusses verschiedener Organisationen und von Ärzten werde mit Verweis auf bestehende Verträge mit ORS «dezidiert abgelehnt». Jetzt will das ­Innenministerium das Angebot doch überdenken. «Die Versorgungssicherheit ist unsere allererste Aufgabe», sagt ORS-Direktor Moll-Thissen, «dazu gehört auch, dass es in der Betreuungseinrichtung genug Decken und Klopapier gibt.» 

Innenministerin Mikl-Leitner macht für diese Zustände die Bundesländer verantwortlich. Sie sollten nach einer fest­gelegten Quote Asylwerber aus Trais­kirchen übernehmen, doch viele Bürgermeister verhindern aus Angst vor Wahlniederlagen die Einquartierung. Wenn Hoteliers oder Hausbesitzer in Eigen­regie Flüchtlinge aufnehmen wollen, werden sie mit Behördenschikanen daran gehindert. Die Regierung möchte die Unterbringung nun selbst in   die Hand nehmen, braucht für ihr Durchgriffsrecht aber einen Parlaments­beschluss mit Zweidrittelmehrheit. In den kommenden Wochen sollen neue Verteilungszentren in den Bundes­ländern eröffnet und 500 Asylwerber in ein Lager in der benachbarten Slowakei gebracht werden. Sowohl die neuen ­Zentren als das slowakische Lager werden ebenfalls von ORS verwaltet. 

Politisch gewollt? 

Hilfsorganisationen, grüne Oppositionspolitiker und sogar manche Sozialdemokraten glauben mittlerweile, dass das Chaos im Lager Traiskirchen nicht durch Missmanagement entstand, sondern von der Innenministerin bewusst zu­gelassen wurde, um zu zeigen, dass in Österreich kein Platz für Flüchtlinge sei. Er habe keine andere Erklärung, sagte Traiskirchens Bürgermeister Andreas Babler (SPÖ) zum «Kurier», ausser, dass die Lage «absichtlich eskaliert wird». 

Der Leiter von AI Österreich, Heinz Patzelt, sieht ORS als «Erfüllungsge­hilfin» des Innenministeriums und wundert sich, «warum ein privater Dienstleister, der einen Ruf zu verteidigen hat, bereit ist, unter solchen Bedingungen zu arbeiten». Patzelt fordert «zuerst einmal die Offenlegung der Finanzierung von ORS und danach Aufklärung, woran eine ordentliche Betreuung scheitert.» 

Lange Zeit wurden Asylwerber von Organisationen wie Caritas oder Dia­konie betreut. Unter der schwarz-blauen Koalition kam 2003 erstmals eine ge­winn­orientierte Firma zum Zug. Doch das deutsche Unternehmen European Homecare gab die Betreuung von Traiskirchen 2011 wieder auf, weil sie angeblich nicht rentierte. 2012 bekam ORS den Zuschlag. Den Vertrag hielt das Innen­ministerium lange geheim. Erst eine ­parlamentarische Anfrage der Grünen Alev Korun zwang sie zur Offenlegung. Auf 81 Seiten werden ORS detailliert ­Betreuungsaufgaben auferlegt, die das Unternehmen derzeit kaum erfüllen kann. Dennoch ist das Ministerium «im Rahmen der Möglichkeiten» mit der Leistung von ORS zufrieden, sagt sein Sprecher. Eine Geheimhaltungsklausel verpflichtet ORS zur absoluten Verschwiegenheit gegenüber anderen Organisationen und Behörden. Jeder Verstoss kostet 10 000 Euro Strafe. Die Kommunikation mit Medien sei davon ausgenommen, so der Sprecher. 

Geheim bleibt weiterhin die Finan­­zie­rung. Der entsprechende Anhang zum Ver­trag wurde vom Ministerium nicht freigegeben. Laut Innenminis­terium erhielt ORS letztes Jahr knapp 21 Millionen Euro. Pro Tag und Flüchtling zahlt das Ministerium 19 Euro, was NGOs als viel zu wenig bezeichnen. Allerdings ­bekommt ORS darüber hinaus – und das ist neu in Österreich – ein Fixum, die sogenannte Sockelfinanzierung. Auch deren Höhe nennt das Ministerium nicht. Caritas und Diakonie hatten die Sockel­finanzierung immer wieder gefordert, aber nie erhalten. Das sei «eine krasse Ungleichstellung», findet die Abgeordne­­te Korun. Sie wird eine neue Anfrage zur Finanzierung stellen und vermutet, dass ORS an Traiskirchen wohl ordentlich verdiene. Humanitäre Vereine hätten als ­Betreuer zu den Zuständen im Lager ­niemals geschwiegen: «Aber bei einer ­gewinnorientierten Firma hat sich das ­Innenministerium offenbar Stillschweigen erkauft.»